Zerbrochene Länder.

Seit die USA im Jahr 2003 im Irak einmarschiert sind, hat sich die Geschichte der arabischen Länder im Nahen Oster geradezu überschlagen. Weckte der Arabische Frühling Hoffnungen auf Stabilisierung und Frieden, so weisen die Fluchtbewegungen seit dem Jahr 2015 in eine ganz andere Richtung. Der US-amerikanische Schriftsteller und Kriegsberichterstatter Scott Anderson gilt als Kenner der Region. Und anders als sein 2013 erschienenes Buch Lawrence in Arabia, das heute bereits als Klassiker der biografischen Literatur gilt, ist sein jüngstes Werk auch auf Deutsch erschienen: Zerbrochene Länder – Wie die arabische Welt aus den Fugen geriet.

Scott Anderson kennt den Nahen Osten wie seine Westentasche, hat die arabischen Länder dutzende Male bereist und besitzt die Fähigkeit, Menschen einfach nur zu beobachten und ihnen zuzuhören. Der Autor erzählt die jüngste Geschichte des Nahen Ostens anhand von sechs Protagonisten, von zwei Frauen und vier Männern aus Ägypten, Libyen, Syrien und dem Irak.
Zitat: Sie teilen mit Millionen anderer Menschen im Nahen Osten das Schicksal, in einer aus den Fugen geratenen Welt zu leben. Die Umbrüche und Unruhen, die 2003 mit dem Einmarsch der US-amerikanischen Truppen in den Irak begannen und letztlich in Aufständen und Revolutionen mündeten, die im Westen als „Arabischer Frühling“ bekannt geworden sind, haben ihr Leben für immer aus den Angeln gehoben.

Der Autor begleitet einen jungen Iraker, der sich vorübergehend dem IS anschließt, genauso wie die Witwe eines prominenten ägyptischen Menschenrechtsanwalts, deren Sohn innerhalb kurzer Zeit von drei Regimes inhaftiert wird, oder auch einen Syrer, den seine Flucht von Homs über das Mittelmeer bis nach Dresden führt. Eine Frau aus dem Irak hat es ihm besonders angetan, schreibt er im Epilog des Buches.
Zitat: Worin ich Trost gefunden habe, ist die außergewöhnliche Kraft Einzelner, Veränderungen herbeizuführen, und niemand verkörpert diese Kraft mehr als Khulood al-Zaidi. Dank ihrer Willenskraft ist Khulood […] zu einer ebenso unwahrscheinlichen wie bemerkenswerten Anführerin geworden. […] Doch es sind gerade diese Menschen – die Besten ihrer Nationen -, die ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen. Was für Österreich eine Bereicherung ist, ist für den Irak ein Verlust.
Die Irakerin lebt seit Ende 2015 mit ihrer Schwester bei einer Familie in Kärnten.

Doch zurück an den Anfang des Buches, das übrigens aus einer Reportage entstanden ist, die am 14. August 2016 als einziger Beitrag im New York Times Magazine erschienen ist. Zwei Jahre lang hatte der Autor recherchiert, um die Krise im arabischen Raum zu verstehen, hat Menschen kennengelernt, die exemplarisch für die Ereignisse in diesen Ländern stehen.
Zitat: Bevor wir mit dem Auto in den Nordirak fahren, tauscht Dr. Azar Mirkhan seine westliche Kleidung gegen die traditionelle Kluft kurdischer Peschmerga: Er streift eine enganliegende kurze Wollweste über sein Hemd, schlüpft in bauschige Pluderhosen und legt einen breiten Kummerbund an. Dann kommen die speziellen Accessoires der kurdischen Streitkräfte: ein Kampfmesser, das er ordentlich an seinem Kummerbund befestigt, eine geladene Pistole, Kaliber .45, und ein Feldstecher für Scharfschützen. […] Der Arzt zuckt mit den Schultern: “Ist eine unsichere Gegend.“

In fünf Teilen arbeitet sich der Autor durch die Geschichte des Nahen Ostens, beginnt im Kapitel Ursprünge im Jahr 1972 mit einem historischen Überblick, und erzählt dann - immer aus der Sicht derer, die dort leben, kämpfen, sich verstecken oder von dort fliehen – vom Irakkrieg, vom Arabischen Frühling, vom Aufstieg des IS. Und endet schließlich mit dem Kapitel Exodus, das die Jahre 2015 und 2016 abbildet. Ganz nach dem Motto „Ein Fremder ist nicht mehr fremd, sobald man ihn kennt“, taucht der Leser ein in eine Welt voller Zweifel und Mut und Trauer und Zuversicht. Man scheint die Gewalt und den Zynismus beinahe am eigenen Körper zu spüren, nimmt Anteil am Leben der sechs porträtierten Menschen. Doch nicht nur die Erlebnisse der Protagonisten ziehen die Leserin, den Leser in ihren Bann, auch die eindringlichen Schwarz-Weiß-Fotografien des Magnum-Fotografen Paolo Pellegrin. Düster und pessimistisch – das ist der Eindruck, den man in diesem Buch von der arabischen Welt bekommt. Viel Grund zur Hoffnung sieht der Autor Scott Anderson nicht.
Zitat: In philosophischer Hinsicht hat mich meine Reise durch den Nahen Osten abermals daran erinnert, wie dünn der Firnis der Zivilisation tatsächlich ist, wie wachsam er verteidigt werden muss und wie langsam und schwer die Reparatur vonstattengeht, sobald er erst einmal Risse zeigt. Das ist bei weitem kein neuer Gedanke, denn diese Lektionen hätten wir eigentlich schon aus den Erfahrungen mit Nazideutschland und den Ereignissen in Bosnien oder Ruanda lernen sollen. Vielleicht aber müssen wir diese Lektionen immer wieder von Neuem lernen.

Scott Anderson erzählt die Geschichten von sechs sehr verschiedenen Menschen. Und die Geschichte einer Region, die – so der Autor – langsam aus den Fugen gerät. Es ist eine großartige Erzählung, eine journalistische Analyse vom Feinsten, eine Empfehlung.

Info: Scott Anderson: Zerbrochene Länder – Wie die arabische Welt aus den Fugen geriet (aus dem Italienischen von Laura Su Bischoff, Suhrkamp 2017)