Flucht. Wie der Staat die Kontrolle verlor.

Übermorgen wählt Österreich einen neuen Nationalrat. Es ist wohl eine der spannendsten Wahlen der letzten Jahrzehnte. Einer der Auslöser für den großkoalitionären Streit - und damit für die vorgezogenen Wahlen - war wohl auch die Flüchtlingsfrage. Konkret jener Zeitraum zwischen dem Ansturm im Spätsommer des Jahres 2015 bis zum März 2016 und der Schließung der Balkanroute. Drei Journalisten der Tageszeitung Die Presse - Rainer Nowak, Christian Ultsch und Thomas Prior - haben das Geschehen in ihrem Buch Flucht - Wie der Staat die Kontrolle verlor akribisch durchleuchtet und allerlei neue Details ans Licht gebracht.

Was ist wirklich passiert im September 2015? Warum hat niemand früher reagiert? Hat Europa versagt? Und wer war tatsächlich für die Schließung der Balkanroute verantwortlich? Die drei Journalisten haben sich in Budapest, Skopje, Ljubljana, Berlin, Wien, Nickelsdorf und  Spielfeld auf die Suche nach Antworten gemacht. Sie sprachen mit Ministern, Diplomaten, Beamten und Vertretern von NGOs, sagt der Journalist Christian Ultsch: "Das war dann eigentlich eine interessante Erfahrung, wie offenherzig die Gesprächspartner waren. Man hatte das Gefühl, dass das für alle eine Ausnahmesituation war, über die sie auch im Nachhinein noch sehr gerne reden." Und Presse-Chefredakteur Rainer Nowak fügt hinzu: "Uns war wichtig das nachzustellen, die Entscheidungsstränge offenzulegen und nachzurecherchieren, wer hat was wann gewusst und falsch gemacht oder vielleicht auch richtig gemacht."
Auf knapp 200 Seiten analysieren die Autoren die Vorgänge akribisch, blicken zurück auf jene Monate, die Europa erschütterten. "Also ich finde, dass die Flüchtlingskrise eines der wenigen Ereignisse war, wo Österreich wirklich eine zentrale Rolle gespielt hat. Sowohl geografisch – es lag ja mitten auf der Balkanroute -, als auch politisch", sagt Christian Ultsch.

Zitat: Kriege und Armut lösen Migrationsströme aus. Das ist keine große Erkenntnis. Doch man nimmt sie erst wahr, sobald die Flüchtlinge vor der eigenen Haustür stehen. Ob in politischen, polizeilichen oder nachrichtendienstlichen Runden: Seit Jahren beklagen sich Italien, Griechenland, Spanien oder auch Bulgarien, die Länder an Europas südlicher Außengrenze, über den Andrang von Migranten. Doch die Vertreter der anderen Staaten hören meist weg. Sie sind nicht betroffen.

Die Autoren attestieren den damaligen Politikerinnen und Politikern massiven Kontrollverlust und Kurzsichtigkeit, wenn auch zum Teil aus humanitären Motiven. Ein erster Schwerpunkt liegt auf den Ereignissen im Herbst 2015 rund um den Ausnahmetag Anfang September, als die Grenzen geöffnet wurden, sagt Rainer Nowak: "Es war schon dieses berühmte Septemberwochenende, der Freitagabend, Samstag, Sonntag, die folgenden Wochen, die Verhandlungen, die nächtlichen Telefonate zwischen Merkel und Faymann, wo man einander aus dem Bett geläutet hat, die Suche der Innenministerin nach dem Bundeskanzler, die Problematik, Herrn Orbán nicht zu erreichen. Also dieses eine Monat war sicher eine unglaublich intensive und zum Teil chaotische Phase."

Ströme von Flüchtlingen sind in jenen Tagen in Ungarn Richtung Österreich unterwegs, übertreten ungehindert die Grenze. Kontrolliert wird nicht, Personendaten werden nicht aufgenommen.
Zitat: Sobald es nämlich einen Nachweis gibt, dass ein Flüchtling österreichischen Boden betreten hat, kann er nach der Dublin-Verordnung wieder zurückgewiesen werden. Aus Deutschland zum Beispiel. Oder aus Schweden. Und deshalb agiert Österreich am Beginn der Flüchtlingskrise nach dem Motto: Reisende soll man nicht aufhalten.

"Natürlich sind wir dann im Zuge dieser Gespräche auf einige neue Sachen draufgekommen. Es ist also nicht nur ein Bericht, wir haben sehr detailliert die Abläufe am 4. September, wir haben die Vorgänge eine Woche später, die auch sehr interessant sind, wo Deutschland Grenzkontrollen eingeführt hat und erwogen hat, Zurückweisungen durchzuführen. Da haben wir auch einen Schwerpunkt draufgelegt", sagt Autor Christian Ultsch. Die Grenzöffnung hat Österreich gespalten, auf der einen Seite die überraschend große Hilfsbereitschaft, auf der anderen ein Befeuern der rechtspopulistischen Ansichten. Doch auch wenn die Autoren zurückblicken auf die Eigendynamik jener Tage, auf die Macht der Bilder und die Rolle der Medien, so geht es in diesem Buch vordergründig nicht um das Schicksal der Flüchtlinge, sondern vor allem um die politischen Vorgänge, das, was im Hintergrund abgelaufen ist. Vom Willkommensstress geht es über Umwege zu Stimmungsumschwung und Chaos, so versprechen es die Titel einiger Kapitel.

Ein weiterer Schwerpunkt ist dann die Schließung der Westbalkanroute im Frühjahr 2016. Als Verantwortlicher für diesen Schritt gilt gemeinhin Außenminister Sebastian Kurz.
Zitat: Der Kurz-Mythos entsteht. Seit Wochen schon spielt der junge Außenminister gekonnt über mediale Bande im Nachbarland. Er besetzt dort eine Nische und bedient eine wachsende Nachfrage für gemäßigte Stimmen rechts der Mitte. Denn Merkels CDU ist in der Flüchtlingsfrage nach links gerückt.
Doch die Autoren haben auch hier nachgebohrt und den Mythos gleich wieder zumindest etwas entzaubert. Laut Christian Ultsch war vor allem das kleine Slowenien maßgeblich an der Schließung der Balkanroute beteiligt: "Die hatten natürlich größte Sorge, dass dann irgendwann die Länder, die sich nördlich von Slowenien befinden, die Grenzen schließen. Und ab dem Moment, wo in Österreich die Diskussion über Obergrenzen für Asylanträge sehr stark aufgekommen ist, wussten die natürlich, sie müssen handeln. Und da haben sie sehr früh zu den mazedonischen Behörden und den Serben den Kontakt gesucht, und die Österreicher, die ja dann die Schließung der Balkanroute an die große Glocke gehängt und auch diese berühmte Balkan-Konferenz am 24. Februar in Wien veranstaltet haben, haben eigentlich anfangs eine eher untergeordnete Rolle gespielt."

Die Flüchtlingssituation und wie damit umgegangen wurde, hat österreichische Politikerkarrieren gefördert - nicht nur die des Sebastian Kurz, auch Hans Peter Doskozil und Christian Kern gehörten zu den Gewinnern. Die tragische Figur im politischen Spiel war der ehemalige Bundeskanzler Werner Faymann, der am 1. Mai 2016 wohl die schwierigste Rede in seiner Politikerkarriere hielt.
Zitat: Solche Szenen hat es im roten Wien noch nie gegeben. Solche Emotionen haben die Spitzen der Sozialdemokratie noch nie erlebt. Werner Faymanns Stimme kann sich nicht durchsetzen, sie bricht ihm weg. Er muss seine Rede abbrechen. Ein Parteichef wird von seinen Genossen, von der Basis, am Weiterreden gehindert.
"Werner Faymann ist ursprünglich mit dem Thema ganz lange unverantwortlich umgegangen, indem er die Warnungen, die es gegeben hat, dass sich diese Menschen auf den Weg machen werden, nicht ernst genommen hat. Dann hat er gemeinsam mit Angela Merkel eine sehr humane Politik gemacht, er war dafür verantwortlich, dass die Grenzen geöffnet wurden und dann nicht wie vereinbart gleich wieder geschlossen wurden, sondern offen blieben. Dann hat er einen massiven Schwenk unternommen und hat eine viel restriktivere Politik vertreten und ist dafür von der eigenen Partei abgestraft worden. Also der 1. Mai war Frustration über Werner Faymann, aber eben auch über diese Politik", sagt Presse-Chefredakteur Rainer Novak.

Die handelnden Personen auf der österreichischen politischen Bühne sind heute großteils andere als vor zwei Jahren, die Folgen für Österreich und auch für Europa waren und sind beträchtlich. Rainer Nowak: "Man sieht, Europa hat da nicht funktioniert und ich glaube, das wird auch weiterhin ein zentrales Thema sein, wie kann Europa besser funktionieren."

Die Autoren zeigen die Schwächen des Dublin-Systems auf, beschreiben schonungslos die Überforderung der verantwortlichen Politikerinnen und Politiker. Hier wird jedoch nicht mit diesem Politiker abgerechnet und jener mit Samthandschuhen angegriffen. Kontrollverlust, Chaos und undurchsichtige Aktionen gab es auf allen Seiten. So soll die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel der Schließung der Balkanroute inoffiziell zugestimmt haben, wird der damalige mazedonische Außenminister zitiert. Nach außen blieb Merkel aber in der Rolle der europäischen Gastgeberin. In diesem Buch üben die Autoren Kritik an der Doppelmoral Europas, beleuchten Schlüsselmomente der Fluchtbewegung und bieten Hintergrundinformationen, die auf so manches Detail ein neues Licht werfen: Spannend berichtet, ohne erhobenen Zeigefinger geschrieben und nüchtern erklärt.

Info: Christian Ultsch, Thomas Prior, Rainer Nowak: Flucht - Wie der Staat die Kontrolle verlor (Molden, Verlagsgruppe Styria 2017)