Señora Gerta – Wie eine Wiener Jüdin auf der Flucht nach Panama die Nazis austrickste.

Die hinreißende und einzigartige Geschichte der Wienerin Gerta Stern, die 1939 vor den Nazis nach Panama flüchtete. In fast genau einem Monat, am 24. Oktober, feiert sie ihren 101. Geburtstag. Aufgeschrieben hat diese Geschichte die Journalistin und Autorin Anne Siegel. Herausgekommen ist aber nicht nur die Lebensgeschichte einer beeindruckenden Frau, es ist die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, mit all seinen Höhen und Tiefen. Uli Jürgens hat das Buch gelesen.

Gerta Stern ist 100 Jahre alt. Eine Frau, die in ihrem Leben so viel erlebt hat, dass es für eine ganze Großfamilie reichen würde. Ein Leben wie ein Panoptikum der Zeitgeschichte. In ihrem Vorwort schreibt die Autorin Anne Siegel:
Zitat: Gerta ist noch da. Sie und ihre Freundinnen, die noch immer feiern. Mittwochs beim Bridge und freitags beim Shabbes-Dinner und auch sonst, wenn sich die Gelegenheit ergibt und sie ihr Leben in tropischer Luft förmlich umarmen. Weil sie noch da sind, trotz allem, und weil es ganz selten passiert, dass Menschen aus dem Schleudergang, in den sie das Leben schickt, aufrechter als zuvor wieder hervortreten. So ein Mensch ist Gerta. Dies ist ihre Geschichte.

Gerta Stern wird am 24. Oktober 1915, also knapp ein Jahr nach Beginn des ersten Weltkrieges, als Gerta Lagodzinsky in ein Wien geboren, in dem noch der Kaiser regiert, in das Konglomerat Österreich-Ungarn - mit seinen 53 Millionen Einwohnern ein Vielvölkerstaat mit unzähligen unlösbaren Problemen. Die kleine Gerta ist nach dem Tod des ersten Kindes ihrer Eltern in deren Augen ein großes Wunder. Und als in Wien ein Ebenbild des amerikanischen Kinderstars Jackie Coogan, berühmt geworden als „The Kid“ an der Seite von Charlie Chaplin, gesucht wird, schlägt Gertas große Stunde.
Zitat: Gerta tanzt und singt bei der Vorstellung der Talentsucher. Sie kann Klavierspielen und hat bereits Ballettunterricht gehabt. Sie sieht Jackie, dem berühmten Vorbild aus dem fernen Amerika, nicht nur ungeheuer ähnlich, sie ist ebenfalls ein Naturtalent.
Gerta gewinnt den Wettbewerb, bekommt Schauspielunterricht. Für sie ist es ein Leichtes, sich lange Texte zu merken, sie liebt den Kontakt zu Menschen. Viele der Fertigkeiten, die sie im Kindesalter am Theater erlernt, werden ihr später von Vorteil sein und ihr im entscheidenden Moment das Leben retten. Theater und Musik werden sie ihr ganzes Leben begleiten, doch als der geliebte Vater viel zu früh stirbt, besteht die Mutter auf einer Ausbildung der Tochter zur Kosmetikerin. Gerta ist ein hübsches junges Mädchen, sogar der bereits international bekannte Hermann Leopoldi macht ihr den Hof. Doch Gerta entscheidet sich für Moses Stern, seines Zeichens Profifußballer beim jüdischen Sportverein Hakoah. Freundinnen hatten sie gewarnt, Fußballer seien keine gute Wahl, denn sie würden allzu gerne zwielichtige Bars besuchen, doch Moses lädt Gerta in die Oper ein und gewinnt ihr Herz.
Zitat: Auf meine Frage, warum Moses es ausgerechnet mit dieser Aktion schaffte, sich doch noch mit ihr zu verabreden, antwortet Gerta: „Ich wusste, wer in die Oper geht, kann kein schlechter Mensch sein!“
Geheiratet wird am 8. Oktober 1938, in einem Keller. Es ist nicht ungefährlich, als Jude auf Wiens Straßen unterwegs zu sein, das junge Paar hat daher bereits Pläne, nach Südafrika auszuwandern. Die Ereignisse überstürzen sich, Gerta und Moses reisen hastig nach Hamburg, dort sollen Visa für sie bereitliegen.
Zitat: Am Wiener Bahnhof herrscht Chaos. Braune Uniformen säumen die Gleise. Der Ton der Menschen ist inzwischen viel rauer. Viele, die ihr Wien so lieben, erkennen es kaum noch wieder und verlassen fluchtartig die Stadt, drücken sich jetzt in letzter Minute in die überfüllten Züge, die den Kopfbahnhof in alle Himmelsrichtungen verlassen.
Doch in Hamburg kommt alles ganz anders. Im Zuge der Novemberpogrome wird Moses verhaftet, nach Sachsenhausen verschleppt und gefoltert. Die Visa aus Südafrika sind nie angekommen, und Gerta klappert Botschaft um Botschaft ab, findet in einem Mitarbeiter einer Schifffahrtsgesellschaft einen wichtigen Verbündeten. Schließlich entscheidet sie, ins Gestapo-Hauptquartier zu gehen, um für die Freilassung ihres Mannes zu kämpfen.
Zitat: Gerta hat schon früh Sprechunterricht bekommen, und spricht das Hochdeutsch, das damals die Radiosprecher perfekt beherrschten, mit gerolltem „r“ an der richtigen Stelle, gekonntem Atemholen und perfekter Betonung. Davon ist in diesem Moment jedoch nichts zu merken. „Lossn´s mi eini!“, ruft sie dem Gestapo-Mann entgegen.

Was in Folge passiert, ist schier unglaublich und wird hier nicht verraten. Nur so viel: Gerta und Moses schaffen es nach Panama, etablieren sich dort, werden gar zu lokalen Berühmtheiten. Die Autorin Anne Siegel hat Gerta zufällig in Panama kennengelernt, bei der Recherche für eine andere Geschichte, die beiden Frauen stehen einander nah, das merkt man bei der Lektüre immer wieder. Und doch gelingt es der Autorin, sich nicht involvieren zu lassen. Immer wieder springt sie in der Zeit vom gestern ins heute, vergleicht die historischen Entwicklungen in Österreich, Deutschland und Panama, entführt die Leser in die Hamburger Reederei oder ins Hollywood der 1920er Jahre, um dann gekonnt wieder ins Leben von Gerta und Moses Stern zurückzukehren. Geschichte, Lebensart, Politik, Wirtschaft – 100 Jahre Weltgeschichte verpackt in das Leben einer Frau. Dieses Buch über die quicklebendige bald 101-jährige Gerta Stern ist in jeder Hinsicht ein Glücksfall.

Anne Siegel: Señora Gerta – Wie eine Wiener Jüdin auf der Flucht nach Panama die Nazis austrickste (Europaverlag, 2016)