Bagdad - Erinnerungen an eine Weltstadt.

Bagdad, die Hauptstadt des Irak, über 5 Millionen Einwohner. Wir kennen die Stadt vor allem aufgrund der nicht enden wollenden Zahl von Anschlägen, Autobomben und Entführungen. Es gilt eine Reisewarnung des österreichischen Außenministeriums, die Botschaft ist aus Sicherheitsgründen geschlossen. Doch in den 1960er und 70er Jahren war Bagdad eine florierende und moderne Traumstadt - mit Casinos, Straßenkreuzern und Frauen in Miniröcken: Davon erzählt der Schriftsteller Najem Wali in seinem neuesten Buch.

Der Schriftsteller Najem Wali, Jahrgang 1956, geboren in Basra, lebt und arbeitet seit über 30 Jahren in Deutschland, im Vorjahr wurde er für seinen Roman Bagdad Marlboro mit dem Bruno-Kreisky-Preis ausgezeichnet. In seinem neuen Buch Bagdad - Erinnerungen an eine Weltstadt erzählt der Autor von seiner Beziehung zur irakischen Hauptstadt. Mehrere Hundert Kilometer entfernt aufgewachsen, spürt er von klein auf eine eigenartige Sehnsucht nach der 5-Millionen-Menschen-Metropole am Ufer des Tigris.

Zitat: Dieses Bagdad, von dem meine Mutter ständig erzählte, ebenso meine Großmutter und mein Großvater, alle unsere Nachbarn, Verwandten und Bekannten, von dem alle redeten, die mich nach meinem abwesenden Vater fragten, von dem auch die Freunde meines Vaters sprachen, die mich vor unserem Haus spielen sahen und sich erkundigten, ob er schon aus Bagdad zurück sei, dieses Bagdad schien mir weit, weit weg. Es war, als läge dieses Bagdad auf einem fernen Planeten, in einem anderen Land.

Postkarten vom Vater, der beruflich immer wieder in der Hauptstadt zu tun hat, lassen beim kleinen Najem eine Phantasiestadt entstehen, abends wandert er durch die Straßen einer an die leere Zimmerdecke imaginierten Landkarte.

Zitat: Ich glaube, dass mir die Vielfalt der Postkarten, die ich aufbewahrte, die Vorstellung einer Welt erlaubte, die größer war als diejenige, die mich umgab. Ohne diese Postkartenbilder wäre es mir nicht vergönnt gewesen, meine ersten Überlegungen über die Welt anzustellen. Auf jedem Bild fand ich irgendetwas Neues, das ich zu mir in Beziehung setzen konnte.

Der kleine Najem träumt sich in das Lieblings-Schallplattengeschäft des Vaters, und in die Buchhandlung Mackenzie, von wo der Vater der Mutter immer die Burda-Moden-Zeitschriften mitbringt. Als es endlich soweit ist und der Vater den Sohn im schicken gelben Chevrolet mit nach Bagdad nimmt, ist der junge Mann überwältigt: „Wenn die Menschen eine Vorstellung von einem Ort haben und dann verreisen, dann schauen sie zuerst nicht, was draußen ist, sondern sie schauen durch das innere Auge. Sie sehen das Bild, das sie sich von dem Ort gemacht haben, es dauert lange, bis man Vergleiche anstellt.“

Keine Frage, Najem Wali muss in dieser Stadt leben, und so beginnt er bald ein Studium der deutschen Literatur. Er ist ausgehungert nach Wissen, nach Gesellschaft, nach Intellektualität. Es ist eine Zeit der Öffnung im Irak, Frauen tragen Hosen oder sogar Mini-Röcke - eine vorsichtige Emanzipation, ein zaghafter gesellschaftlicher Fortschritt: „Und natürlich war das Anfang, Mitte der 70er eine Zeit des Aufbruchs, da gab es viele französische Übersetzungen von Werken des Existenzialismus oder Surrealismus – Sartre, Camus, die ganze Bande (lacht). Das war ein bohemisches Leben, das war sehr schön!“

In Najem Wali wächst der Wunsch, Schriftsteller zu werden. In Cafés und Bars wird diskutiert, in öffentlichen Parkanlagen trifft sich die rebellische Jugend. Doch die Politik macht den jungen Menschen einen Strich durch die Rechnung, und Najem Wali schlägt sich bald auf die Seite der Opposition, will nicht auf Freiheit, Fortschritt und Visionen verzichten, engagiert sich im Widerstand gegen die regierende Baath-Partei. Doch die Stadt steuert in Richtung Niedergang.

Zitat: Es war ein Prozess, der im Frühjahr 1978, genau am 31. März jenes Jahres, in der Hinrichtung von einunddreißig Bürgern, zur Hälfte Militärs, zur Hälfte Zivilisten, gipfelte. Der Vorwurf lautete: Bildung kommunistischer Zellen in der Armee, ein Anklagepunkt, den der Machtapparat mit dem Tode bestrafte.

Dennoch zögert Najem Wali das Verlassen der Stadt immer wieder hinaus, will die Entwicklungen nicht wahrhaben, wird verfolgt und mehrmals verhaftet und gefoltert. Am 22. September 1980 bricht der irakisch-iranische Krieg aus, Najem Wali bekommt den Mobilisierungsbescheid. Doch er stellt sich nicht. Und kann schließlich nicht mehr in Bagdad bleiben: „Und dann musste ich das Land und Bagdad verlassen. Das war für mich so, als würde ich mich von meiner ersten Liebe verabschieden.“

Ohne Abschied von seiner Familie zu nehmen, schleicht sich Najem Wali am 28. Oktober 1980 heimlich aus der Stadt.

Zitat: Als ich vor dem Bus stand, mit dem ich die Stadt verlassen sollte, die je verlassen zu müssen ich nie geglaubt hatte, trug ich lediglich gefälschte Personalunterlagen bei mir. Jede meiner Bewegungen, jedes meiner Worte drückte die Leere aus, die ich in jenen Tagen um mich herum empfand. Ich fühlte mich kraftlos, wie jemand, der ein Abenteuer auf sich nimmt, von dem er weiß, dass es auch tödlich ausgehen kann.

Najem Wali legt hier einen überaus poetischen Text vor, blumig die Sprache, manchmal vielleicht zu sehr. Dem Leser wird einiges abverlangt, denn immer wieder springt der Autor von einem Jahrhundert in ein anderes, zitiert eine Menge arabischer Gelehrter, verliert sich vereinzelt in zu vielen Details. Die politischen Entwicklungen des Landes fließen immer wieder in den Text ein, der sich einmal schwelgerisch und nostalgisch, dann wieder knapp und erschreckend offen zeigt. 23 Jahre sollte Najem Wali seine Traumstadt nach seiner Flucht nicht wiedersehen, erst im Jahr 2003 kehrte er erstmals zurück, fand die Stadt seiner Kindheit und Jugend aber nicht mehr. In seinem Buch "Bagdad - Erinnerungen an eine Weltstadt" lässt er diese unwiederbringliche, faszinierende und eigentümliche Zeit auf eindrucksvolle Weise wieder auferstehen.

Najem Wali Bagdad – Erinnerungen an eine Weltstadt (aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich, Hanser 2015)