Brasilien im Bild.


Kontext, 30. Mai 2014

Jetzt kann man die Tage bis zur Fußball-Weltmeisterschaft tatsächlich schon fast an zwei Händen abzählen… Brasilien macht sich bereit. Aktive und Fans haben schon seit Monaten Herzklopfen, nun ist es bald soweit, und sie können mit ihren Mannschaften mitfiebern. Um die letzten Tage bis zum Anpfiff des Eröffnungsspiels am 12. Juni in São Paulo zu überstehen, empfehlen wir heute zwei Bildbände über den Fußball in Brasilien. Ein Buch kommt vom Wiener Journalisten und Fotografen Alois Gstöttner, das andere ist eine Sammlung von Fotos diverser Fotografen, herausgegeben von Reinaldo Coddou H.

So muss ein Bildband sein: großformatig und dick. Mit vielen, vielen Fotos. Reinaldo Coddou H. hat für sein Buch mit dem Namen O Jogo Bonito, das schöne Spiel, tatsächlich einige der schönsten Fotos zusammengetragen, die es zum brasilianischen Fußball gibt. Die Serie über das Maracanã-Stadion etwa, die wie in einem Zeitraffer die Entwicklung dieses Fußball-Symbols erzählt. Oder jene über Fußball im Alltag der Brasilianer, der Fotograf Caio Vilela ist dafür quer durch das Land gereist. Diese Strecke ist wohl eine der eindringlichsten und ehrlichsten. Brasilien-Liebhaber werden die portugiesischen Titel der einzelnen Kapitel mögen: „Craques eternos“ zum Beispiel, die unsterblichen Sportskanonen, wie Garrincha, Zico und Sócrates, oder „O Rei“, der König, so heißt das Kapitel über Pelé. Zum Schmunzeln ist der Titel „Não te da asas“, das verleiht dir keine Flügel – ein ironischer Titel zur Red-Bull-Spielerakademie.

Kurz wird auch in diesem Buch die aktuelle Situation mit ihren Protesten und Demonstrationen angesprochen - die Armut, die Gewalt und die Korruption. Im Vorwort schreibt der brasilianische Journalist Juca Kfouri:
Zitat: Die Verbandsstruktur des brasilianischen Fußballs ist extrem reaktionär, korrupt und korrumpierend. Sie ist modernisierungsresistent und sie steht im Zentrum unzähliger Skandale. […] Das erklärt auch die Situation, in der sich der heimische Fußball aktuell befindet. Obwohl es in einem Land mit fast 200 Millionen Einwohnern natürlich eine hinreichende Menge an Fußballfans gibt, exportiert Brasiliens Fußball Arbeitskraft, verkauft seine Künstler und gewährt hoch verschuldeten Klubs Unterschlupf. 

Doch dann geht es in diesem Buch fast ausschließlich um die Faszination Fußball. Ob in Farbe oder in Schwarz-Weiß: hier wird gedribbelt bis zum Wadenkrampf, der Schweiß fließt in Strömen und Pelé steht wie ein Supermodel im glänzend-türkisen Hemd vor einem mint-farbenen Mercedes im Jahr 1966. Meist braucht es keinen Kommentar, denn diese Bilder sprechen für sich, nur bei wenigen Kapiteln findet sich ein Begleittext.

Nicht wirklich geglückt ist die Grafik, der Einband wirkt doch etwas billig und die vielen verschiedenen Schriftarten könnten so manchem Grafiker schlaflose Nächte bereiten. Trotzdem: O Jogo Bonito ist ein Buch, in dem man immer wieder gerne blättert, jedes Mal entdeckt man ein neues Detail, ein neues Gesicht, man taucht ein in die Stadionatmosphäre, man hört die Fans singen, man sieht die Brasilianer leiden und hoffen, verzweifeln, lachen und weinen.

Ganz anders ist das Buch des 1975 geborenen Fotografen und Autors Alois Gstöttner namens Gooool do Brasil – Kartografie einer nationalen Leidenschaft. Auch wenn Gstöttners Fotos gegen die kontrastreichen und farbgesättigten Bilder im zuvor beschriebenen Bildband zuerst flau und unscheinbar erscheinen, so ist es doch diese besondere Ästhetik, diese matte Farbigkeit, die dem Buch zu einem stimmigen Gesamteindruck verhilft. Schrift, Bilder und Inhalt passen perfekt zusammen. Das Format ist jedoch gewöhnungsbedürftig: Es ist ein Mittelding zwischen Taschenbuch und Quartheft. Und es ist eigentlich auch kein klassischer Bildband, es ist ein Buch über den brasilianischen Fußball – mit sehr, sehr vielen Bildern. Daneben gibt es lange Textpassagen: Es sind persönliche Erlebnisse, die Alois Gstöttner da aufgeschrieben hat, etwa über das Treffen mit dem politischsten aller brasilianischen Fußballer:
Zitat: Sócrates ist Vater von sechs Söhnen und arbeitet als Autor, Kolumnist und Fernsehkommentator. […] Das vernarbte Gesicht und der Vollbart eines linken Rebellen verleihen ihm die Aura eines griechischen Philosophen, die sein Name so nahelegt. Seine Ausdrucksweise ist gewählt, er spricht langsam und mit Nachdruck: „In einer klassischen Arbeitsbeziehung, vor allem zur Zeit der Militärdiktatur, hatte der einfache Arbeiter keine Möglichkeit, gehört zu werden. […] Wir haben diesen Prozess bei Corinthians umgekehrt. Wir haben uns Rechte erkämpft, die bis heute selten sind. […] Man braucht keine Partei, um eine Masse zu mobilisieren. Man braucht nur Ideen und Mut, um ein Land zu verändern.“ 

Immer wieder wirft Gstöttner einen Blick auf Politik, Wirtschaft und Kultur. Er erzählt Geschichten, denn eines hat Alois Gstöttner gleich zu Beginn der Recherchen entdeckt: Über den Fußball kommt man sofort mit allen ins Gespräch. Spannend ist die Reportage über den Fußball im Gefängnis oder die Suche nach dem Spielfeld, auf dem das allererste Fußballspiel auf Brasiliens Boden stattgefunden hat. Noch immer wird dort gekickt, in einer recht zwielichtigen Gegend, in der sich Drogenbanden immer wieder bekämpfen.

Schade ist nur, dass doppelseitige Fotos in diesem kleinformatigen Buch nicht so gut zur Geltung kommen, denn auch wenn die Bindung recht stabil erscheint, will man das Buch dennoch nicht derart brutal auseinanderklappen. Alles in allem ein sehr sympathisches Buch, das nicht nur Fußballfans gefallen wird.

Reinaldo Coddou H. (Hrsg.) O Jogo Bonito, Brasilien- eine fußballverrückte Nation in Bildern (Spielmacher, 2013)
Alois Gstöttner Gooool do Brasil, Kartografie einer nationalen Leidenschaft (Club Bellevue, 2014)