Kontext, 2. Mai 2014
In etwas mehr als einem Monat
beginnt in Brasilien die Fußball-Weltmeisterschaft. Vielleicht werden alle
Stadien bis dahin fertig sein, das Land selbst hatte in der Vorbereitungsphase
für die Spiele jede Menge zu verkraften. Denn Brasilien erwartet rund 600.000
ausländische Fans, ihnen sollen Spiele der Superlative geboten werden,
Sicherheit wird großgeschrieben. Doch „Brasilien brennt“ – und zwar nicht nur
im Titel des Buches von Adrian Geiges, das gerade erschienen ist, sondern
tatsächlich: es ist kein Ende der Proteste gegen die immensen Ausgaben für die
WM abzusehen. Adrian Geiges ist nach Brasilien gegangen, um hautnah von dort zu
berichten. Er zeigt Brasilien in seinem Buch aus einem sehr persönlichen
Blickwinkel.
Adrian Geiges ist immer unterwegs.
Er war viele Jahre in China und in Russland. Er will das Land, aus dem er
berichtet, kennenlernen und das heißt für ihn, er muss dort leben. Anfang 2013
verlässt er das verschneite Deutschland und fliegt nach Brasilien. Leben wird
er in Rio de Janeiro. Vorrangiges Problem: er braucht eine Wohnung. Und das ist
im Vorfeld der WM gar nicht so einfach.
Zitat: Die Besitzerin der Wohnung heißt Daniela und schreibt mich auf Facebook
auch direkt an. […] Im Preis geht sie plötzlich von umgerechnet 940 Euro
Monatsmiete auf 423 Euro im Monat herunter, also nicht einmal mehr die Hälfte
des Ursprungspreises – hinzu kommen allerdings 85 Euro Nebenkosten für die
Wohnanlage. "Viel teurer wird es aber im Juni und Juli 2014 wegen der
Fußballweltmeisterschaft", ergänzt sie dann. Wie teuer? 8.000 US-Dollar pro
Monat. Bleibt mir nur noch die Antwort: "Tut mir leid, so reich bin ich nicht."
Schließlich findet Adrian Geiges
eine Wohnung, in einer Favela, also einem Armenviertel. In einer jener Favelas,
in der die UPP, die Unidade da Polícia
Pacificadora, die Befriedungspolizei, das Kommando übernommen hat. Dort
können Kinder wieder auf der Straße spielen und müssen nicht befürchten, Opfer
von Querschlägern zu werden.
Um das Thema Gewalt geht es im Buch
immer wieder: Allein im Jahr 2012 kamen in Brasilien 53.800 Menschen bei
Verbrechen ums Leben, die meisten in Kämpfen zwischen verfeindeten Drogengangs.
Der Autor begleitet einen Mann, der ein Projekt gestartet hat, das es
Kindersoldaten in den Favelas ermöglichen soll, wieder ein normales Leben zu
leben, einer normalen Arbeit nachzugehen, auszusteigen aus dem Drogen-Wahnsinn.
Einer von ihnen ist Hugo:
Zitat: Den meisten fällt es schwer, über ihre Vergangenheit zu reden. […] Hugo
hingegen erzählt offen über sein Leben: "[…] In den Jahren, in denen ich dabei
war, sind mehr als hundert meiner Freunde getötet worden. Manche verbluteten in
meinen Armen. Von den damaligen Freunden sind nur noch zwei am Leben, aber sie
sitzen im Gefängnis. Mich selbst trafen vier Schüsse, einer in den Rücken, einer
ins Bein, zwei in die Schultern."
Das erste Drittel des Buches
bestätigt den Europäer in seiner Meinung über Brasilien. Ein wunderschönes Land
mit gravierenden Problemen: Armut, Drogen, Rassismus. Doch dem Autor gelingt
eine Gratwanderung: so schlimm die Zustände auch sind, die Brasilianer nehmen
das Leben gelassen, für alles und jedes gibt es eine Lösung, und mit einem
Lächeln kommt man viel weiter als mit europäischer Verbissenheit.
Zitat: Zwar rege ich mich darüber auf, wenn Deutsche, die hier leben,
Brasilianer als „faul“ bezeichnen. Ich sehe in meiner Favela jeden Tag, wie
Leute gleich in mehreren Jobs hintereinander arbeiten, während die meisten
Deutschen sechs Wochen Urlaub genießen und manche sogar die 35-Stunden-Woche. […]
Brasilianer wollen a boa vida, das "gute Leben", heute, jetzt, in diesem Moment – und lassen dafür auch einmal
einen Termin sausen oder kommen zwei Stunden zu spät.
Schluss mit Lustig ist allerdings
beim Thema Fußball. Ja, Brasilien ist fußball-närrisch. Brasilien weint, wenn
die Nationalmannschaft verliert und kein Land der Welt feiert den Sieg so wie
Brasilien. Die bevorstehende Weltmeisterschaft hat allerdings etwas zum
Vorschein gebracht, das es vorher nicht gab: Widerstand. Gegen die FIFA, gegen
die Regierung, gegen die explodierenden Kosten. Etwa in Manaus, der
nördlichsten WM-Stadt, im Amazonasgebiet:
Zitat: Nicht alle hier teilen die Begeisterung der Regierung, in diesem
Naturparadies ein riesiges Stadion zu erbauen. Denn dafür wurden umgerechnet
200 Millionen Euro aus Steuergeld ausgegeben – zu viel für ganze vier
Vorrundenspiele, finden manche. Denn Manaus´ Vereine kicken maximal in der
dritten Liga. Für große Spiele wird das Stadion nach der WM kaum genutzt –
allenfalls für Konzerte, was die Regierung immer wieder hervorhebt. Kritiker
würden sich solche Summen lieber für andere Projekte wünschen, für Naturschutz
oder Bildung.
Adrian Geiges taucht ein in dieses
große Land und malt ein ungeschöntes, oft hartes, doch immer faszinierendes
Bild. Wer Brasilien kennt, muss oftmals schmunzeln und für den
Brasilien-Anfänger streut der Autor fast beiläufig Tipps für den ersten Besuch
ein.
Manches Kapitel dieses Buches wirkt
irgendwie fehl am Platz, etwa jenes über das Städtchen Blumenau mit seinem alljährlichen
Oktoberfest, jenes über den Papst-Besuch oder jenes über das Treffen mit Glenn
Greenwald, der gemeinsam mit Edward Snowden den NSA-Skandal aufdeckte. Da kommt
es einem so vor, als hätte der Autor rasch ein paar Reportagen zusammengepackt,
um sein Brasilien-Buch noch vor der Weltmeisterschaft herausgeben zu können. Und auch wenn das letzte Kapitel
etwas abrupt und unerwartet auftaucht, ist dort vor allem der Vergleich mit
anderen Schwellenländern spannend, den der Autor aufgrund seiner Erfahrungen zieht:
Zitat: Europäer und Amerikaner [verweisen] gerne darauf, was in den
Schwellenländern noch alles im Argen liegt, sowohl in China als auch in
Brasilien. Viele Missstände, die sie erwähnen, bestehen tatsächlich. Und doch
klingt es ein wenig nach dem Wehklagen alter Männer. Tatsache ist: China, lange
Zeit ein abgeschlagenes Entwicklungsland in kulturrevolutionären Wirren, ist
heute die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde – und niemand zweifelt daran,
dass es in wenigen Jahren die USA als größte ablösen wird. Und Brasilien hat
Großbritannien als sechstgrößte Wirtschaftsmacht überholt und wird bald auch an
Frankreich vorbeiziehen, der fünftgrößten.
Dieses Brasilien-Buch ist anders
als andere. Wohltuend nüchtern und dennoch ganz nah dabei. Es blickt in die
Herzen der Menschen und hinter die Kulissen. Adrian Geiges ist gerade zur
richtigen Zeit am richtigen Ort.
Adrian Geiges Brasilien brennt (Quadrigaverlag / Bastei Lübbe, 2014)