Von der Kunst, die Welt mit anderen Augen zu sehen.



Kontext, 18. April 2014
Kennen Sie Ihre eigene Straße? Wissen Sie, welche Geschäfte es da gibt und welche Menschen in Ihrer Nachbarschaft leben? Wenn wir durch die Straßen gehen, dann haben wir meist ein Ziel, und schenken dem Weg dorthin wenig Aufmerksamkeit. In ihrem Buch Von der Kunst, die Welt mit anderen Augen zu sehen wechselt die Autorin Alexandra Horowitz immer wieder die Perspektive. Sie betrachtet ihre Heimatstadt New York einmal ganz anders, nämlich mit den Augen ihrer Begleiter, und sie wird bei jedem ihrer Spaziergänge aufs Neue überrascht.

Elf Spaziergänge und das Vergnügen der Aufmerksamkeit – so lautet der Untertitel des Buches. Alexandra Horowitz geht gewohnte Wege mit anderen Menschen, Menschen, die den Fokus auf andere Dinge legen,  mit einer Psychologin, einem Sounddesigner, einem Typografen, einer blinden Frau, einem Geologen, einem Tierforscher. Die Idee ist simpel und das Ergebnis verblüffend: Denn herausgekommen ist nicht ein Lebenshilfebuch, wie es bereits so viele andere gibt, sondern ein kluges, interessantes, tiefgründiges Buch, charmant und unterhaltsam geschrieben. Etwa das Kapitel über den Spaziergang mit ihrem kleinen Sohn.
Zitat: Ein Spaziergang ist das Erforschen von Oberflächen und Texturen mit den Fingern, den Zehen und auch mit der Zunge. Er ist Stillstehen und Schauen, was so vorbeikommt, und umfasst verschiedenste Formen der Fortbewegung (darunter Füßehochwerfen, Galoppieren, Rennen, blitzschnelles Fallen, Sich-Drehen und lautes Schlurfen). […] Er ist Stehenbleiben, um das Murmeln des Windes in den Baumkronen zu bewundern, um herauszufinden, woher der Vogelgesang kommt, um zu zeigen. Zeigen: Da! Der ausgestreckte Arm verlängert den eigenen Blick, sodass ein anderer sehen kann, was man selbst sieht. Zeigen bedeutet Teilen.

Wir übersehen ständig Dinge, die direkt vor unserer Nase sind, meint die Autorin. Wir nehmen uns nicht die Zeit, einmal genau hinzuschauen oder hinzuhören oder hinzuschnuppern. Doch was bestimmt das, was wir sehen und hören? Was steuert unser Gehirn?
Zitat: Wir schränken uns von vornherein in dem ein, was wir sehen, weil wir eine bestimmte Erwartung dahingehend haben, was wir sehen werden, und diese Erwartung beeinträchtigt unsere Wahrnehmung. Erwartung ist in gewisser Hinsicht die kleine Schwester der Aufmerksamkeit: Beide dienen dazu, die Menge dessen, was wir von der Welt „da draußen“ verarbeiten müssen, zu begrenzen. Die Aufmerksamkeit ist die charismatischere von beiden, da sie sich effektiver verpackt und verkauft, aber auch die Erwartung ist ein entscheidender Teil dessen, was wir sehen. 

Was dieses Buch ausmacht, ist neben der Leichtigkeit und der Alltagsphilosophie vor allem die Ernsthaftigkeit, mit der sich die Autorin mit ihrem jeweiligen Begleiter und dessen Eigenheiten beziehungsweise mit dessen Fachgebiet auseinandersetzt. So taucht der Leser ein in die Geologie der Stadt New York, erfährt allerlei über den Manhattan-Glimmerschiefer oder die vorzeitlichen Gletscher, die hier und da noch Spuren hinterlassen haben. Beim Spaziergang mit einer Illustratorin verwandelt sich das vermeintlich Gewöhnliche allein durch genaues Betrachten in etwas Seltsames, alles nur eine Frage des Blickwinkels. Und der Tierverhaltensforscher plaudert über das Sozialleben von Waschbären und Ratten, erweitert die Stadt und erkundet Lebensräume in engen Ritzen, dunklen Ecken oder Hinterhöfen.
Zitat: Selbst wenn man vor sich keine Krabbler sieht, selbst wenn der Boden unbelebt aussieht und die Luft klar und rein, sind sie da. Millionen und Abermillionen von Kleintieren. Und die Spuren, die sie hinterlassen haben, sind noch zahlreicher: auf Pflanzen, in Blättern und Rinde, in Gestalt von charakteristischen Ausscheidungen, Eipaketen, Kokons, abgelegten Exoskeletten und selbst errichteten Bauwerken; auf Mauern, in der Erde, im Lehm und auf unserer Haut.

Normalerweise selektieren wir in unserer Wahrnehmung sehr stark, denn es sind zu viele Eindrücke, die auf uns niederprasseln. Kaum jemand kann das Geschehen in einer belebten Straße in all seinen Details verarbeiten. Die Idee der Autorin, sich bei jedem Spaziergang auf etwas ganz Besonderes zu konzentrieren, ist für jedermann möglich. Spannender wird der Ausflug aber in Begleitung eines Experten, etwa eines Mediziners. Er sieht nicht nur hastig von hier nach dort eilende Geschäftsleute oder gemütlich dahinschlendernde Jugendliche, er sieht ganz andere Dinge.
Zitat: Aus unordentlichen Aufschlägen und abgetragenen Schuhen kann der aufmerksame Gangbeobachter strukturelle Probleme ableiten. Vielleicht hat jemand Plattfüße, oder der Hüftgelenkkopf ist in seiner Pfanne ein wenig nach vorn geneigt. Im Lauf der Zeit und nach Millionen von Schritten verwandelt sich eine subtile anatomische Variation in eine erworbene Deformation. 

Und erst die Geräusche und Töne! Da spielen sich Mini-Dramen ab, ganzen Hörspielen oder Symphonien kann man lauschen. Aus der Kakophonie der Großstadt tönen liebliche Melodien, Schallwellen prallen an gegenüberliegenden Wänden ab und lassen ein Basketballspiel als mitreißenden Rhythmus erscheinen. Ein Paradies für Sounddesigner und andere Ton-affine Menschen, ein Hilfsmittel für Blinde und Sehbehinderte, die sich an Geräuschen orientieren.
Zitat: Von Zeit zu Zeit haben Leute versucht, ein Inventar all dieser Stadtgeräusche anzulegen – eine Taxonomie der hellen oder dumpfen, simplen oder komplexen, kurzen oder anhaltenden Töne, die in wartende Ohren fallen. Es scheint eine unmögliche Aufgabe zu sein. Wir verfügen nicht über genügend Aufmerksamkeit, um jeden Ton zu registrieren, und nicht über genügend Worte, um jeden Ton zu benennen. 

Auch wenn wir wissen, dass es selbst im vertrautesten Eck immer wieder Neues zu entdecken gibt, macht Alexandra Horowitz mit ihrem Buch Lust aufs Spazieren, aufs Flanieren, aufs Beobachten und aufs Zuhören. Und dazu kommt die Beschäftigung mit dem Neu-Entdeckten nach dem Ausflug. Denn zu jedem Thema lässt sich nach Herzenslust weiterrecherchieren – ein ausführliches Quellenverzeichnis mit vielen persönlichen Anmerkungen der Autorin lädt dazu ein.
Zitat: Der Einfluss dieser Spaziergänge auf mich ist greifbar; sie haben mein Sehen neu definiert. […] Für mich ist Gehen weniger körperlicher Transit als geistige Beförderung geworden. Es ist faszinierend.

Info:
Alexandra Horowitz Von der Kunst, die Welt mit anderen Augen zu sehen – Elf Spaziergänge und das Vergnügen der Aufmerksamkeit, aus dem Englischen übersetzt von Jorunn Wissmann und Monika Niehaus (Springer-Verlag 2013)