Die Zukunft der Saudade. Fado im Alltag.


Radiokolleg Musikviertelstunde, 24. März 2014

Fado ist Tradition und Lebensgefühl Portugals, dieses Landes im äußersten Westen Europas. Beheimatet vor allem in der Hauptstadt Lissabon, aber auch in der Universitätsstadt Coimbra und in Porto im Norden des Landes wird Fado gesungen. Wir kennen den Fado vor allem als  melancholische, oft schwermütige Musik. Es geht um Sehnsucht, Liebe, große Gefühle. Doch der Fado ist so viel mehr als das. In den letzten Jahren haben ihn junge „Fadistas“ aus den Schubladen geholt und entstaubt, sie haben ihn in seine Einzelteile zerlegt und wieder neu zusammengesetzt. Stars wie Mariza oder Ana Moura füllen auch bei uns große Konzertsäle. Und wer die Ohren spitzt, während er durch portugiesische Städte spaziert, hört immer Fado, wie etwa in einem kleinen Lokal, in dem sich die Nachbarn zum Fado-Singen treffen.

Ein kleines enges Lokal in der nordportugiesischen Stadt Porto, weit ab vom touristischen Zentrum, dort, wo der Rio Douro ins Meer mündet. Viele Fischerboote schaukeln am Ufer. Drinnen drängen sich die Nachbarn, es gibt frittierte Fische, Pasteten mit Krabbenfülle, Leber mit Zwiebeln. Dazu ein Glas Wein oder ein winziges Bier, Fino genannt. Es ist Zeit für "Fado Vadio", den Straßenfado.
"Ruhe, Ruhe, denn heute ist ein Dichter gestorben", singt der ältere Herr. Hinter ihm ein Bildnis der Ikone des Fado, Amália Rodrigues. Vor der Tür schnorren ein paar Jugendliche Zigaretten, bleiben dann im Türrahmen stehen und hören zu. Erst ist es nur ein Summen, ein Murmeln, doch dann singen alle mit.

In der Adega do Rio Douro führt die Wirtin Alice ein strenges Regiment, achtet darauf, dass niemand stört, sagt die Sänger an und werkt nebenbei mit ihrem Sohn, der Mutter und zwei Helferinnen in der winzigen Küche. 
"Meine Eltern singen schon immer, seit 30 Jahren gibt es hier in diesem Haus den Fado."
Sie selbst singe aber nicht, sagt Alice, das überlässt sie den anderen, die haben bessere Stimmen.

Der Fado ist wieder „in“ in Portugal. Entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts, woraus, das ist nicht ganz klar, vielleicht aus den Liedern der Seeleute, vielleicht aus brasilianischen Musikrichtungen wie Lundum oder Modinha, die mit dem portugiesischen Hof nach der Flucht vor Napoleon nach Brasilien von dort mitgebracht wurden. Ganz genau weiß man es nicht.

In Lissabon gehört der Fado vor allem in die Alfama, jenes Stadtviertel mit seinen engen, steilen, gewundenen Gässchen, die Jahr für Jahr von Hunderttausenden Touristen bewandert werden. Aus dem offenen Fenster dringt Musik, die Stimmung ist luftigleicht und eigenartig unbeschwert. In den verwinkelten Gassen muss man den echten Fado suchen, man findet ihn selten in den Lokalen, die einem der Taxifahrer auf dem Weg vom Flughafen ins Stadtzentrum empfiehlt. Man braucht Gespür und Geduld, denn erst spätnachts wird in den kleinen Bars gesungen, werden die Gitarren aus ihren Koffern geholt, und der oder die Fadista stimmt das erste Lied an. "A Severa" im Stadtviertel Mouraria ist eines dieser Lokale, die "Tasca do Chico" und das "Café Luso" im Bairro Alto, aber natürlich auch die vielen kleinen Bars in der Alfama. "Dragão de Alfama", "Fado Maior", "Guitarras de Lisboa".Das Viertel ist vielfach besungen worden, etwa von Mariza im Lied "Alfama".

Im Lokal „Povo Lisboa“ in einer anderen Ecke der Stadt hat man die Tradition eines Artist in Residence, eigentlich eines Fadista in Residence aufgegriffen: junge Sängerinnen und Sänger haben die Möglichkeit, mit renomierten Musikern aufzutreten. So auch die 22-jährige Marta Rosa:
"Für mich ist der Fado etwas sehr Aktuelles. Als ich angefangen habe zu singen, mit zwölf Jahren, waren die Leute erstaunt „Was, so ein kleines Mädchen und singt Fado!“. Damals war es einfach ganz anders, der Fado war nicht so „in“ wie heute. Es gab noch viele Vorurteile, das war die Musik der Alten, naja, eine recht konservative Sache eben."
Wenig später steht Marta Rosa neben ihren beiden Gitarristen, schließt die Augen und singt einen jener traurigen, melancholischen Fados: "Ich sagte dir Adieu und starb, und an den leeren Kai schlugen wieder die Wellen." - Disse te adeus e morri...

Vor allem die jungen Portugiesen entdecken den Fado wieder, beginnen wie Marta Rosa bereits in jungen Jahren zu singen, viele nehmen Gitarreunterricht. Luis Martins, Gitarrist der Gruppe Deolinda, einer Gruppe junger Musiker, deren Musik auch vom Fado beeinflusst ist, erzählt von einem Erlebnis in einem Fado-Lokal mitten in Lissabon:
"Das war unglaublich: Vor dem Lokal standen vier, fünf Kinder herum, alle unter zehn Jahren. Die hörten zu, und hatten ihre Ellenbogen aufs Fensterbrett gestützt. Und die sangen mit. Das waren traditionelle Fados, die eben alle bei uns auswendig können. Und solange es diese volkstümliche Tradition in den Lokalen in der ganzen Stadt gibt, wird es auch den Fado weiter geben. " 
Und noch eine andere Entwicklung zeige, dass der Fado im portugiesischen Alltag angekommen ist, auch in dem der Jugend: 
"Seit der Fado immer populärer wird, ist etwas passiert, das früher undenkbar gewesen wäre. Es gibt Fado-Konzerte auf Festivals. Mit massenhaft Publikum. Camané tritt dort auf oder auch Mariza. Und das ist wohl auch ein Ergebnis dieser neuen Beschäftigung mit dem Fado."
Er war aber nicht immer so beliebt wie jetzt, der Fado. Altmodisch und verstaubt fanden ihn viele. Die Militärdiktatur unter António Oliveira Salazar missbrauchte ihn, um ihre nationalen Interessen zu verbreiten und das Volk auf die eigene Identität einzuschwören. Viele lehnten damals diese ideologisch besetzte, patriotische Musik ab, erst nach der Nelkenrevolution 1974, also in den späten 1970er und in den 1980er Jahren wurde der Fado wieder populärer.

Seit 2011 steht er auf der Liste des immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO. Heute gehört der Fado wieder zum Alltag, nicht nur in den Touristenlokalen. Tania führt ein Hostel in Lissabon, es liegt gleich unter dem Kastell Sao Jorge mit Blick auf den Stadtteil Mouraria. Tania ist knapp 30 Jahre alt und hört mittlerweile gerne Fado:
"Ich habe wieder gelernt, ihn zu mögen. Vor allem als ich im Ausland war. Als ich hier gelebt habe, war er mir nicht so wichtig. Aber dann lebte ich drei Jahre in Holland und spürte, dass der Fado etwas Einzigartiges ist. Etwas sehr Portugiesisches: Die Texte, die Musik, die Sehnsucht. Wenn man fort ist, macht das alles plötzlich Sinn."

Amália Rodrigues war "das Paradigma, der Dreh- und Angelpunkt, das Epizentrum des Fado", wie es ein Journalist einmal formulierte. Ihre Rolle während der Diktatur ist umstritten, dennoch blieb sie für die allermeisten Portugiesen DIE Fadosängerin. Eines ihrer berühmtesten Lieder handelt von der Liebe. Der Fado heißt "A gaivota", die Möwe. Ein klassischer Fado, schwermütig und voller Sehnsucht. Es ist diese „saudade“, die ewige Sehnsucht, die den Portugiesen irgendwie ausmacht. Und die immer wieder thematisiert wird. Zu Recht, sagt einer der neuen Fado-Stars, der Sänger Camané:
"Sehnsucht hat ja auch mit Zukunft zu tun, das ist ein wunderbares und intelligentes Gefühl. Und wenn wir von etwas Traurigem singen, dann lässt uns der Fado darüber lächeln. Er befreit uns von dieser Traurigkeit."

Camané ist ein klein gewachsener Portugiese mit einer großen Stimme. Nachdenklich ist er beim Interview, sucht immer wieder nach den richtigen Worten. Das ändert sich, wenn er singt - etwa über seine Straße, die sich im Herbst verändert, alle Rollläden sind heruntergelassen, keiner ist unterwegs, keine Blumen auf den Fensterbrettern, die Bahnhofsuhr geht nach, "ach, wenn es doch endlich wieder Sommer wäre und die Straße so, wie ich sie mag" - a minha rua. Alltag im Fado.

Musik zum Nachhören:
"Hoje morreu um poeta" - Fado Vadio in der Adega do Rio Douro
"Alfama" - gesungen von Mariza
"Disse te adeus e morri" - gesungen im Fadolokal Povo Lisboa von Marta Rosa
"A gaivota" - gesungen von Amália Rodrigues
"A minha rua" - gesungen von Camané 
Homepage Mariza
Homepage Camané 
Stiftung Amália Rodrigues
Fadolokal Povo Lisboa