Kontext, 14. März 2014
Das Mittelmeer ist für viele eines der beliebtesten
Urlaubsziele, mit seinem sanften Meer und den angenehmen Temperaturen. Doch
dieses große Wasser war in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Schauplatz von
Tragödien und weitreichenden Entwicklungen. Viele Schiffe waren dort von einem
Hafen zum anderen unterwegs, die der Griechen und Etrusker, dann der Venezianer
und Katalanen, später der Holländer und Briten. Eine "Geschichte von Konflikten
und Kontakten", so beschreibt der Autor David Abulafia sein vielschichtiges Buch
über das Mittelmeer, das im deutschen Titel den Beisatz „Eine Biographie“
bekommen hat.
Zitat: Für die Römer war es
„Unser Meer“, für die Türken das „Weiße Meer“ […], für die Juden das „Große
Meer“ […], für die Deutschen das „Mittelmeer“ und für die alten Ägypter das
„Große Grün“. In der Moderne wurde der Wortschatz um weitere Beiworte
bereichert: das „Binnenmeer“; das „umschlossene Meer“; das „freundliche Meer“;
das „gläubige Meer“ […]; das „bittere Meer“ des Zweiten Weltkriegs; das
„korrumpierende Meer“ […] aus Dutzenden von Mikroökologien, […]; der „flüssige
Kontinent“, der wie ein echter Kontinent viele Völker, Kulturen und Ökonomien
innerhalb genau definierter Grenzen umfasst.
Und innerhalb dieser Grenzen ist David Abulafia unterwegs. Er
setzt die Segel und nutzt Wind und Strömungen, um den Leser auf eine spannende
Reise durch die Geschichte des Mittelmeers mitzunehmen. Auf über 800 Seiten
werden Handelsschiffe mit allerlei Gütern bepackt, werden heilige Allianzen und
blutige Konflikte lebendig. Abulafias Biographie beginnt im Jahr 22.000 vor
Christus und reicht bis in die Gegenwart. Er unterscheidet fünf mediterrane
Zeitalter und widmet jedem die gleiche Aufmerksamkeit. Immer wieder kehrt der
Leser dadurch in verschiedene Städte zurück, der Fokus liegt ganz klar auf der Sicht
der Dinge vom Wasser aus, und so ändert sich oftmals der Blickwinkel, etwa beim
Untergang Trojas, den Punischen Kriegen, der Gründung Alexandrias oder im
Römischen Reich:
Als Oktavian an die
Macht kam, befanden sich alle Küsten und Inseln des Mittelmeeres unter
römischer Herrschaft oder zumindest im römischen Einflussbereich. Das Mittelmeer
war für die Römer in der Tat mare nostrum.
Sein Sieg führte zu einer mehr als 200 Jahre währenden Friedenszeit im gesamten
Mittelmeer.
Es geht um Machtverhältnisse, Machtverschiebungen,
Machtverlust. Griechenland, Ägypten, Italien, Tunesien, Spanien – virtuos und
mit einer sprachlichen Leichtigkeit, die auch in der Übersetzung nicht verloren
gegangen ist, erzählt Abulafia diese Kultur- und Zivilisationsgeschichte, detailreich und anschaulich:
An Bord war alles dicht
gepackt und zusammengedrängt, die Passagiere schliefen unter freiem Himmel und
benutzten ihr Reisegepäck als Kopfkissen. Im 13. Jahrhundert verstaute man die
Ladung teilweise unter Deck, und an beiden Enden des Schiffs richtete man
Kabinen ein, so dass Angehörige der mittelalterlichen Oberschicht dort mehr
Komfort genossen, wenn sie die geforderten Preise bezahlten.
Stile, Moden und Ideen fanden ihren Weg über das Mittelmeer. Doch
mit den Schiffen wurden nicht nur Handelsgüter wie Gewürze, edle Stoffe oder
Sklaven von hier nach dort transportiert, auch Krankheiten wie die Pest
verbreiteten sich rasch:
Aufgrund des Booms der
Städte vom 12. bis zum 14. Jahrhundert waren die Küsten des westlichen
Mittelmeeres ebenso anfällig für die Pest wie die einwohnerreichen Städte des
Nahen Ostens. Allerorten raffte sie unglaublich viele Menschen dahin: ein
Drittel bis zur Hälfte der Bevölkerung und in einigen Teilen des westlichen
Mittelmeerraumes wie etwa in Katalonien sogar bis zu 60 oder 70 Prozent.
Abulafia lässt sich auf seiner Schiffsreise durch die Geschichte
des Mittelmeers Zeit, geduldig und ausführlich weist er immer wieder auf die
neuesten Errungenschaften in der Seefahrt hin. So war etwa der Bau des
Suez-Kanals ein einschneidendes Ereignis, wurde doch damit der Seeweg in den
Orient stark verkürzt. Im Jahr 1885 passierten bereits 3.600 Schiffe den Kanal.
Doch auch im Schiffsbau selbst tat sich damals einiges:
Die zweite Veränderung,
zu der es Mitte des 19. Jahrhunderts im Mittelmeer kam, war die Ankunft der
Dampfschiffe, gefolgt von Schiffen mit eisenbeschlagenem Rumpf. Die ersten
Versuche, Dampfschiffe zu bauen, reichen bis in die 1780er Jahre in den
Vereinigten Staaten und Frankreich zurück. Die fundamental neuen Qualitäten der
Dampfschifffahrt waren Geschwindigkeit, Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit. Die
Geschwindigkeit sollte jedoch nicht überschätzt werden. Acht Knoten galten
bereits als schnell.
Immerhin, wofür Segelschiffe mehr als einen Monat brauchten, bewältigten
Dampfschiffe in weniger als einer Woche.
Das Mittelmeer war stets hart umkämpft, Kriege und Gemetzel
gehören genauso zu seiner Geschichte wie der florierende Handel. Ins Chaos
stürzte das Mittelmeer vor allem im Zweiten Weltkrieg, danach verloren das
Mittelmeer und seine Hafenstädte zusehends an Bedeutung im weltpolitischen
Gefüge. In seinem Schlusswort, das den schönen Titel "Übers Meer" bekommen hat,
schreibt Abulafia:
Die Menschen, die das
Meer befahren, sind oft nicht gerade typisch für die Gesellschaften, aus denen
sie kommen. Sie sind zwar keine Außenseiter, wenn sie sich auf den Weg machen,
aber werden leicht zu solchen, wenn sie jenseits des Meeres in fremde
Gesellschaften gelangen, ob nun als Händler, als Sklaven oder als Pilger.[…] So
wurde der Mittelmeerraum zu der Region, in der es zu den weltweit wohl
intensivsten Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Gesellschaften kam.
Umfangreich, spannend, leicht lesbar: Dieses Buch hat alles,
was ein künftiges Standardwerk ausmacht. Beeindruckend ist auch die penible
Recherchearbeit des Autors, die sich anhand der knapp einhundert Seiten
umfassenden Anmerkungen erahnen lässt. Wer nach der Lektüre dieses Buches
leicht schwankend an der Hafenmauer steht, wieder festen Boden unter den Füßen
zu spüren scheint und in Gedanken die aufregende Geschichte des Mittelmeers
Revue passieren lässt, der hat dieses große Wasser wohl verstanden.
David Abulafia Das Mittelmeer. Eine Biographie, aus dem Englischen von Michael
Bischoff (S. Fischer Verlag, 2013)