Du sollst begehren.


Kontext, 27. Dezember 2014

Neun Jahre, von 1971 bis 1980 recherchierte Gay Talese für sein Buch Thy Neighbor´s Wife über die sexuelle Revolution in den USA, und er setzte dabei sogar seine Ehe aufs Spiel: Er begleitete Playboychef Hugh Hefner, er lebte über Monate in Nudistencamps, war Stammgast in Massagesalons und Swingerclubs. Die erstmals ins Deutsche übersetzte Ausgabe mit dem Titel Du sollst begehren- Auf den Spuren der sexuellen Revolution zeichnet ein großes und spannendes Sittenbild der USA jener Zeit. Und auch wenn Texte über Sexualität heutzutage nicht mehr derart schockieren können wie damals, zieht dieses Buch seinen Leser dennoch in seinen Bann. Denn es ist schlau geschrieben, ehrlich erzählt und gründlich recherchiert.

Zitat: Sie war nackt und lag auf dem Bauch auf dem Wüstensand, ihre Beine waren weit gespreizt, ihr langes Haar wehte im Wind, den Kopf hatte sie nach hinten gereckt, ihre Augen geschlossen. [...]Sie trug keinen Schmuck, keine Blumen in ihrem Haar; um sie herum waren keine Fußabdrücke im Sand, es gab keinerlei Hinweis auf das Datum und nichts, das die makellose Schönheit des Fotos beeinträchtigt hätte außer den feuchten Fingern des 17-jährigen Jungen, der es in Händen hielt und mit pubertierendem Verlangen und Lust betrachtete.
So beginnt Taleses Du sollst begehren, es nimmt den Leser sofort gefangen und lässt ihn erst wieder nach über 600 Seiten los. Atemlos, erschöpft und befriedigt. „Die in diesem Buch genannten Namen und beschriebenen Ereignisse sind echt und haben sich so ereignet“, so steht es in einem kurzen Hinweis ganz am Anfang des Buches. Und genau das ist es, was dieses Buch so spannend macht: Talese ist neben Tom Wolfe und Truman Capote einer der wichtigsten Vertreter des New Journalism, einem Schreibstil zwischen Reportage und Roman.

Gay Talese wurde 1932 geboren, er arbeitete als Journalist, gab Zeitschriften heraus und vergrub sich meist jahrelang in die Recherche für seine Bücher. Fünf Jahre beschäftigte er sich mit der Familie des Mafiosi Salvatore Bill Bonanno, den er begleitete und immer wieder interviewte - 1971 erschien das Buch Honor thy Father, eine der ersten großen Reportagen über die Mafia.Auch für Du sollst begehren recherchierte er neun Jahre, probierte viel selbst aus, führte einen Massagesalon, besuchte Swingerclubs und Nudistencamps. Zahlreiche Menschen gewährten ihm Einblick in ihr Eheleben, erzählten über Affären, Treue und Untreue. Passen monogame Beziehungen und ein erfülltes Sexualleben zusammen? Talese suchte nach den Gründen für die sexuelle Revolution, die sich ab den 1950er Jahren in den USA entwickelte. Eine der wichtigsten Personen im Buch ist wohl Playboy-Gründer Hugh Hefner: 
Zitat: Als er im Sommer 1953 das Layout der ersten Playboy-Nummer entwarf, hatte er nicht die leiseste Ahnung, wieviele Männer seiner Generation die gleichen Träume und Sehnsüchte hatten. Er rechnete im Höchstfall mit 30.000 Interessenten, eine Schätzung, die er auch erst so hochgeschraubt hatte, nachdem es ihm gelungen war, die Abdruckrechte an einem berühmten Aktfoto von Marilyn Monroe zu erwerben. […] Rückblickend mögen die 500 Dollar, die das Forto gekostet hatte, als Schnäppchen erscheinen, doch Hefner war der einzige Interessent, […], vermutlich auch, weil er zum damaligen Zeitpunkt der Einzige war, der bereit war, das Risiko einzugehen, ein Magazin herauszubringen und darin ein ganzseitiges Farbfoto einer Schauspielerin abzudrucken, deren erotische Ausstrahlung weit über die Harmlosigkeiten hinausging, die das Publikum von den Aktmodellen der künstlerischen Fotozeitschriften gewohnt war. 

Talese blickt zurück ins 19. Jahrhundert, auf die Sittengesetze und die puritanische Sichtweise eines Anthony Comstock; er erzählt aus dem Leben von Samuel Roth, der sich mutig gegen die Zensur von vor allem erotischer Literatur auflehnte; er  lässt Alex Comfort, den Autor des Bestsellers The Joy of Sex  seine ersten Erfahrungen im Gruppensex machen. Daneben begegnen dem Leser zahlreiche andere mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten, ein ausführliches Register am Ende des Buches macht es leicht, deren Lebenswege nachzuverfolgen.

Als das Buch 1981 erschien, schockierte es die Öffentlichkeit, heute ist es ein Klassiker und hat nichts an Aktualität verloren. Talese wurde einmal als „Besessener“ bezeichnet, als einer, der nicht recherchiert, sondern völlig eintaucht. Das kann der Leser von Du sollst begehren zweifellos bestätigen. Die Schilderungen sind provokant, detailreich und dicht, geheime Wünsche und sexuelle Tabus werden klar und deutlich ausgesprochen: 
Zitat: Männer haben zuweilen das Gefühl, von ihrem Penis beherrscht zu werden; er bringt sie vom rechten Weg ab und verführt sie dazu, sich nachts mit Frauen einzulassen, deren Namen sie am nächsten Morgen bereits vergessen haben. [...] Empfindlich, aber unverwüstlich, Tag und Nacht verfügbar, und das fast ohne nachzuhelfen, tut er zielgerichtet, wenn auch nicht immer geschickt, seit einer Unzahl von Jahrtausenden seine Pflicht - immer auf der Suche, fühlend, sich ausdehnend, tastend, penetrierend, pulsierend, schrumpfend und mehr wollend. Ohne je seine lüsternen Absichten und Interessen zu verbergen, ist er das aufrichtigste Organ des Mannes.

Es geht um Sexualität und Talese spart nicht mit dem dazugehörigen Vokabular. Doch er geht nie zu weit. Obszönes oder Pornografisches ist nicht zu finden. Trotz der unmittelbaren Nähe zum Geschehen schreibt er immer mit der gebotenen Distanz. Im letzten Kapitel führt er sich selbst als Figur ein, erzählt von seinen Recherchen, gibt  Intimes aus seinem Leben preis und spricht von sich in der dritten Person.
Zitat: Als Journalist interessierte er sich für Menschen, die sich abseits der ausgetretenen Pfade bewegten: die unbemerkten Wanderer in den Schluchten von New York, die Brückenarbeiter in schwindelnder Höhe, die exzentrischen Bartelbys in den Redaktionen der New York Times, die Kinder der Mafia, die Schmuggler illegaler Literatur, die gescheiterten Studentinnen in den Massagesalons […]. Doch selbst für einen Menschen wie Talese, der stolz war auf seine Fähigkeit, unerträgliche Gesellschaft lange erdulden zu können, wenn er davon überzeugt war, zu guter Letzt mit einer guten Geschichte belohnt zu werden, gab es Grenzen. 
Taleses Ehe zerbrach trotz all seiner offensiven Recherchen nicht. Ob monogame Lebensweise und erfüllte Sexualität doch zusammenpassen? Auch wenn vieles in diesem Buch sehr klar ausgesprochen wird, die Antwort auf diese Frage, heute so aktuell wie in den 1980er-Jahren, bleibt uns Talese allerdings schuldig.

Gay Talese Du sollst begehren – Auf den Spuren der sexuellen Revolution, aus dem Amerikanischen von Gustav Stirner (Rogner & Bernhard)