Die bejubelte Eröffnungsrede bei der Frankfurter Buchmesse des brasilianischen Autors Luiz Ruffato zeichnete ein Land, das mit den gängigen Klischees Samba, Fußball und
Caipirinha wenig zu tun hat. Ruffato sprach von sozialen
Gegensätzen, von einer gewaltigen gesellschaftlichen Schieflage und
vielen wirtschaftlichen Problemen. Wie reagiert die brasilianische Literatur darauf, wie politisch ist sie?
Und wie sehen europäische Beobachter die Entwicklung Brasiliens?
Rückblende -
Frühsommer 2013: in zahlreichen Städten Brasiliens gehen Hunderttausende
Menschen auf die Straßen. Weltweit wird darüber berichtet. Was war passiert?
Wieso konnte sich der Zorn der Bevölkerung derart hochschaukeln, dass sogar der
Fernsehsender TV Globo erstmals in seiner Geschichte eine Telenovela unterbrach,
um von den Demonstrationen zu berichten? Anstoß der Proteste war ja die
Forderung nach besseren öffentlichen Verkehrsverbindungen und günstigeren
Tickets. Doch trotz zahlreicher Zusagen und Versprechungen von Politikern
gingen die Proteste weiter: die Menschen demonstrierten gegen Machtmissbrauch,
Korruption und Geldverschwendung für die sportlichen Großereignisse. Auf
Transparenten war etwa zu lesen: "Herr Präsident, werden Sie sich in
diesem neuen Fußballstadion künftig um meinen kranken Sohn kümmern?“
Die Historikerin
Ursula Prutsch hat gemeinsam mit dem Romanisten Enrique Rodrigues-Moura eine
Kulturgeschichte Brasiliens geschrieben, es ist pünktlich zur Frankfurter
Buchmesse erschienen. Am Rande einer Konferenz zum Thema „Weltmacht Brasilien,
Chancen und Risiken eines Aufstieges" in Wien sagt sie zu den Protesten in
Brasilien:
„Demonstriert haben Brasilianer immer
wieder, eine Demonstrationskultur hat sich in den letzten
Jahren der Militärdiktatur in Brasilien entwickelt, und diejenigen, die jetzt
demonstrieren, sind dieser Mittelstand, die gerade [...] durch diese Sozialpolitik, durch einen
stärkeren Real, durch eine stärkere Währung [aus der Armut aufgestiegen sind], die jetzt endlich bestimmte
Konsumprodukte kaufen konnten, wie Autos oder technische Geräte, Computer, und
das ja auch auf billige Kredite gemacht haben, also auf viel Pump, das ist ja
auch gefährlich, die wollen diese Vorteile nicht mehr verlieren. Das ist ein
relativ fragiles System jetzt, oder eine fragile Politik, durch diese
Sozialpolitik von Lula, durch diese Familienbeihilfen, durch diese
Unterstützung nehmen viel mehr Brasilianer und Brasilianerinnen politische
Rechte wahr. Also ich denke mir schon, dass dieser Demokratisierungsprozess,
der erst sehr langsam in Gang gekommen ist in den 90er Jahren, stärker zu
greifen beginnt.“
Brasilien hat im
Vergleich zu Europa eine recht kurze 500jährige Geschichte und der Großteil
davon war fremdbestimmt. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts begann das Land sich
selbst, seine Identität, seine Eigenarten zu suchen. Einflüsse gab es viele:
Sie kamen von der indigenen Bevölkerung, die bereits im Land war, als die
Portugiesen mit ihren Segelschiffen an der Küste landeten. Von den Millionen
schwarzer Sklaven, die aus Afrika nach Brasilien gebracht wurden. Auch der
Kolonialherr Portugal und die vielen Auswanderer aus allen Teilen der Welt
haben das Land geprägt. Im Buch Brasilien. Eine Kulturgeschichte
heißt es etwa zum Umgang mit dem indigenen Erbe:
Zitat: Die
Eingliederung der Indios in die Nation inspirierte auch Autoren. In Rio
erschien 1911 O triste fim do Policarpo Quaresma (deutsch: Das traurige Ende
des Policarpo Quaresma). Darin träumt ein unbedeutender, aber redlicher Beamter
im Kriegsministerium [...] von Mitteln und Wegen, wie sein Land modernisiert
und die Unfähigkeit seiner politisch Verantwortlichen beseitigt werden könnte.
Policarpo studiert die Indios [...] und
kommt zum Schluss, dass es nur Zeit und ein wenig mehr Ursprünglichkeit
brauche. Seine Utopien machen ihn zum Gespött der Leute und bringen ihn
schließlich ins Irrenhaus. [...] Das Buch ist eine patriotische Anklage. [Der
Autor] Lima Barreto spart nicht mit Kritik an der Korruption in seiner Heimat,
dem inquisitorischen Terror und dem literarischen Hurra-Patriotismus. Ihn
fasziniert das Komisch-Respektlose der Volkskultur, gleichzeitig schockiert ihn
der soziale Zustand seines Landes.
Brasilien war von
Beginn an ein Schmelztiegel der Kulturen und ist das bis heute geblieben. Seit
knapp 20 Jahren stabilisiert sich das Land: eine kluge Wirtschafts- und
Finanzpolitik, zum Beispiel durch die Unterstützung von kleineren und mittleren
Unternehmen, hat dafür gesorgt, dass Brasilien 2008 relativ unbeschadet durch
die Finanzkrise gekommen ist. Der wichtigste Politiker der letzten Jahre ist
natürlich der ehemalige Präsident Luis Inácio Lula da Silva, kurz Lula, er hat
die Bevölkerungsstruktur mit seiner Sozialpolitik, und da vor allem mit Hilfe
der Familienförderung - der bolsa família - kräftig verändert und rund 40
Millionen Menschen aus der bitteren Armut geholt hat. Und Lula habe auch damit
begonnen, mit verschiedenen Mythen Schluss zu machen, sagt Ursula Prutsch:
„Und der stärkste Mythos für uns ist der Mythos der so genannten
Rassendemokratie, das ist ein Wort, das in den 30er Jahren geprägt worden ist
von Gilberto Freyre und dann auch von Stefan Zweig übernommen worden ist in
seinem Buch Brasilien, Land der Zukunft. Und da ging es eben darum, in den
30er Jahren, eine starke Identität zu schaffen für dieses riesige Land, aber
eine Identität, die eben sehr viel verdeckt hat, vor allem den Rassismus, den
Rassismus gegenüber der schwarzen Bevölkerung, der manifest ist bis heute – je dunkler,
desto schlechter gestellt. Und diese Rassendemokratie, die vorgibt, Brasilien
ist ein Land unterschiedlicher Ethnien der europäischen Einwanderer, der
indigenen Völker, der afrobrasilianischen Völker, alle verstehen sich, es gibt
kaum Krieg, es gibt keine Konflikte, und diese Rassendemokratie, die wird jetzt
zunehmend aufgebrochen.“
Doch das gehe nicht
von heute auf morgen, die Klassenunterschiede seien immer noch enorm, der
Rassismus sei immer noch vorhanden, versprochene Reformen würden nur sehr langsam
umgesetzt.
Frankfurt -
Eröffnung der Buchmesse Mitte Oktober. Brasilien will sich abseits der
Klischees zeigen, als Land voller Stimmen und einer vielfältigen Kultur. Und
eine Stimme ist bei der Eröffnung - normalerweise eine straff durchinszenierte,
dem Protokoll unterworfene Veranstaltung - nicht zu überhören. Der
brasilianische Autor Luiz Ruffato lässt mit einer politischen und sehr
emotionalen Rede aufhorchen.
„Wir sind unter der Ägide des Genozids geboren. Von den vier Millionen
Indianern, die es im Jahr 1500 gab, sind heute noch ungefähr 900.000 übrig, von
denen ein Teil unter erbärmlichen Bedingungen in Lagern am Rande der
Landstraßen oder in den Favelas der großen Städte lebt. Als ein Merkmal
brasilianischer Toleranz wird stets die so genannte Rassendemokratie angeführt,
der Mythos, es habe keine Vernichtung gegeben, sondern Assimilierung der
Ureinwohner. Doch dieser Euphemismus dient lediglich dazu, eine unleugbare
Tatsache zu vertuschen: Wenn wir heute ein Land von Mestizen sind, so ist dies
Resultat einer Kreuzung zwischen europäischen Männern mit indianischen oder
afrikanischen Frauen, genauer gesagt: Die Assimilierung geschah über die
Vergewaltigung von Ureinwohnerinnen und Afrikanerinnen durch weiße Kolonisatoren.“
Trotz diverser
Verbesserungen wiege das Erbe von 500 Jahren Machtmissbrauch schwer, so Ruffato
weiter. Und gegen Ende der Rede sagt er:
„Ich glaube, vielleicht naiv, daran,
dass Literatur etwas verändern kann. Als Kind einer Analphabetin und Waschfrau,
eines des Lesens fast unkundigen Popcornverkäufers, selbst Popcornverkäufer,
Kassierer, Verkäufer, Textilarbeiter, Dreher, Inhaber einer Imbissbude, wurde
mein Leben verändert durch den, wenn auch zufälligen Kontakt mit Büchern. Und
wenn das Lesen eines Buchs den Weg eines Menschen verändern kann, und wenn die
Gesellschaft aus Menschen besteht, kann Literatur eine Gesellschaft verändern.“
Standing Ovations
und Jubel im Publikum. Lange Gesichter hingegen bei einigen Mitgliedern der
offiziellen brasilianischen Delegation. Man wollte sich in Frankfurt zwar
abseits der gängigen Klischees wie Samba, Fußball und Zuckerhut präsentieren,
aber diese Rede war dem einen oder anderen dann doch zu heftig. Brasilien
reagiert empfindlich, wenn im Ausland schlecht über das Land gesprochen
wird. Dem nicht genug, der Vizepräsident
des Landes, Michel Temer, wird nach seiner Rede bei der Buchmesse-Eröffnung
sogar ausgebuht. Das hat es in dieser Form noch nicht gegeben, in Frankfurt.
Plötzlich geht es bei der Buchmesse um Politik, in jeder Diskussion, in jedem
Gespräch, in jeder Lesung eines brasilianischen Schriftstellers wird die
Eröffnungsrede Ruffatos reflektiert und analysiert, gelobt oder kritisiert. Der
Schriftsteller João Paulo Cuenca betont, wie wichtig die Rede gewesen sei:
„Unsere Kultur, auch wenn mancher das
nicht wissen will, muss sich mit diesen Widersprüchen und dieser extremen
Gewalt auseinandersetzen. Ein Land, das durch Gewalt entstanden ist, bleibt
auch gewalttätig und ungerecht. Und die Rede Ruffatos war historisch und
beispielhaft, sie wurde auch schon entsprechend gewürdigt, aber es gab auch gegenteilige Reaktionen. Einige
Schriftsteller, vor allem der älteren Generation, sind der Meinung, man dürfe im
Ausland nicht schlecht über seine Heimat sprechen. Das ist ein komplett
absurder Gedanke. Wenn wir von Brasilien sprechen, dann dürfen wir nicht nur
über den Strand sprechen und über den Corcovado. Denn selbst die brasilianische
Literatur ist nicht nur das und es ist Heuchelei, wenn wir nicht darüber reden,
was just in diesem Moment passiert, nämlich, dass die Menschen für ihre Rechte
auf die Straßen gehen und von der Polizei misshandelt werden.“
Luiz Ruffato
selbst, ist auch wenige Tage nach der Eröffnung davon überzeugt, dass es
richtig war, diese Rede an genau diesem Ort, also der Frankfurter Buchmesse, zu
halten:
„Ich habe daran keinerlei Zweifel.
Ich glaube, wenn wir von Büchern oder Literatur sprechen, sollte man annehmen
dürfen, dass es dafür Raum gibt. Raum, um über das Leben und über die
Gesellschaft nachzudenken. Und, ja, hier ist der richtige Platz dafür. Es
bringt uns nicht weiter, wenn wir ständig davon reden, dass wir hier feiern,
das machen wir sowieso jeden Tag, aber hier ist ein adäquates Forum, um Ideen
zu diskutieren, ihnen freien Lauf zu lassen. Wenn eine Buchmesse nicht der
richtige Platz dafür ist, über Ideen zu diskutieren, dann weiß ich auch nicht,
wo der sein soll.“
Er habe gewusst,
dass seine Rede für Diskussionen sorgen würde, er habe mit unterschiedlichen,
auch heftigen Reaktionen gerechnet, erzählt er weiter, nicht aber damit:
„Ich bin gestern genau an diesem Tisch gesessen und habe einem deutschen
Journalisten ein Interview gegeben, als zwei Brasilianer vorbeikamen und
versuchten, mich körperlich anzugreifen. Sie haben gesagt, ich soll aus
Brasilien verschwinden, wenn ich so unzufrieden wäre. Ich sei undankbar, ich
würde Brasilien bloßstellen, und dazu hätte ich nicht das Recht. Ich stehe
immer noch zu meiner Rede, ich sage nicht, dass ich Recht habe – was ich gesagt
habe, ist weder richtig noch falsch. Ich wollte einfach, dass die Leute
nachdenken. Ob sie mit mir übereinstimmen oder nicht, körperlich angreifen
sollen sie mich nicht.“
Der Großteil der
brasilianischen Autoren zeigt sich solidarisch mit Ruffato, in einem Manifest
unterstützen sie außerdem die in Rio de Janeiro streikenden Lehrer, fordern das
Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit, und vor allem das Recht auf
Bildung. Insgesamt 70 brasilianische Autorinnen und Autoren wurden zur
Buchmesse nach Frankfurt eingeladen, um ihr Land zu repräsentieren. Darunter
João Paulo Cuenca und Andréa Del Fuego, beide gehören zur jüngeren
Autorengeneration, von beiden sind gerade Romane in deutscher Übersetzung erschienen.
Die Frage, ob und wieweit ein Schriftsteller sich politisch engagieren sollte,
beantworten sie so:
„Ich denke, man ist politisch, auch
wenn man gar nicht politisch sein will. Freilich müssen sich nicht alle Romane,
oder meine Romane, genau hiermit oder damit beschäftigen. Ich muss nicht
konkret über die sozialen Probleme in meinem Land schreiben, aber ich habe
diese Probleme immer im Hinterkopf, sie beeinflussen mich und meine Arbeit
ständig und augenscheinlich - alles was ich sage. Wenn ich hier in Deutschland
sitze und ein Interview gebe und über mein Land spreche, kann ich das, was dort
passiert, nicht einfach ignorieren. Das muss ich doch tun, wenn nicht, wäre das
auf jeden Fall erbärmlich.“
„Ich war einmal sehr überrascht, als
ich ein Buch über meine Familie geschrieben habe, das vor 80 Jahren spielt, an
einem ruhigen und friedlichen Ort im
brasilianischen Hinterland, und ich dachte, ich schreibe einfach eine
literarische Geschichte. Dann erkannte ich plötzlich, vor allem nachdem das
Buch übersetzt worden war und ich die Rezensionen las, um selbst besser zu
verstehen, was ich da geschrieben hatte, dass soziale politische Fragen in
allen Fasern des Textes enthalten waren. Wir schreiben an einem bestimmten Ort,
in einem bestimmten Geist - die politische Geschichte deines Landes, deiner
Herkunft, deiner Familie wird immer alles durchziehen.“
Die
Humanwissenschaftlerin und Autorin Lilia Moritz Schwarcz, die sich in ihren
Büchern immer wieder mit sozialer Identität und Rassismus beschäftigt, verweist
darauf, dass es immer zwei Seiten zu beleuchten gebe, auch wenn in ihrem Land
vieles im Argen liege:
„Ein Land, in dem es viel Korruption
gibt, in dem das Recht des Stärkeren gilt, in dem die Gesetze oftmals nichts
wert sind, viel wichtiger sind Beziehungen – und worauf ich in meinen Büchern
aufmerksam machen möchte, ist die Schwierigkeit, die wir haben, wenn es um
soziale Einbeziehung oder Ausgrenzung geht. Wir wissen, dass die Vermischung
der Rassen oft durch Gewalt, durch Vergewaltigung von statten gegangen ist,
aber wir wissen auch, dass daraus ein Land mit einer kulturellen Vielfalt
entstanden ist. Das sehen wir in der Musik, im Sport, und natürlich auch in der
Kunst und in der Literatur. Und das ist sehr wichtig, wir sollten es
wertschätzen.“
Emotional reagiert
Paulo Lins, der Autor des Buches Die Stadt Gottes, über den an späterer
Stelle nochmals gesprochen werden wird:
„Sie haben für alles Geld, für die
Fußball-Weltmeisterschaft, für Stadien, sie haben Geld für einen Haufen Dinge.
Und sie haben kein Geld, um die Lehrer besser zu bezahlen, um die Schulen
technisch besser auszustatten. Wenn die öffentlichen Schulen nicht besser
werden, wird es auch keine Leser geben. Stell dir vor, bei uns gibt es Schulen,
in denen gibt es keine Bibliothek! Schulen ohne Bibliothek! Das ist ein
Wahnsinn.“
In diesem Punkt
sind sich die brasilianischen Autorinnen und Autoren einig: es müsse viel mehr
in Bildung investiert werden. Und ebenso wie Luiz Ruffato glauben sie daran:
Literatur könne den Menschen und damit auch die Gesellschaft verändern. Wobei
es die Autorin Beatriz Bracher so formuliert:
„Ich glaube, dass Wörter die Macht
haben, etwas zu verändern, immer, wenn wir uns unterhalten und Ideen
diskutieren. In dieser Hinsicht hat die Kunst eine Macht, Menschen zu beeinflussen, die stärker ist als die
Vernunft. In Wahrheit glaube ich aber, dass die Politik die Welt stärker
verändert als die Literatur es tut. Aber die Literatur kann die Gedanken der
Politiker verändern.“
Denn nur wer lese,
könne sich eine eigene Meinung bilden.
Auch wenn Präsident Lula da Silva die
Mittelschicht gestärkt hat, in Brasilien gibt es heute noch immer rund 16
Millionen Analphabeten, das sind knapp zwölf Prozent der Bevölkerung. Gerade in
den vergangenen Jahren wurden viele kleine Initiativen ins Leben gerufen, oft
ohne staatliche Unterstützung und mit privaten Mitteln finanziert, die
versuchen, Literatur dorthin zu bringen, wo die Menschen oftmals ihr ganzes
Leben lang kein Buch in die Hand nehmen, geschweige denn lesen, geschweige denn
selbst etwas schreiben. Gemeint sind die Armenviertel, die Favelas. Die
Schriftstellerin Adriana Lisboa erzählt von einem bewegenden Augenblick bei
einer derartigen Literaturveranstaltung in einer Favela in Rio de Janeiro:
„Ich habe kürzlich in Brasilien an
einem Programm namens FLUPP teilgenommen, dem Literaturfest der Einheiten der
Befriedungspolizei, in einer Favela in Rio de Janeiro. Und 50, 60-jährige
Menschen haben dank dieser Programme, die teilweise ganz kleine Initiativen
sind, aber die immer wichtiger werden, dank dieser sozialen Programme, die
niemanden ausschließen, erstmals Kontakt mit Büchern. Eine ältere Frau gab mir
nach meinem Treffen ein Gedicht, das sie selbst geschrieben hatte und sie
sagte: „Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt, Gedichte! Ich bin so
verzaubert, mein ganzes Leben ist nur noch Poesie, ich will nichts anderes
mehr!“ Da sieht man doch, dass Literatur, egal ob Prosa oder Lyrik etwas im
Leben der Menschen bewirken kann. Sie muss nur verfügbar sein für alle, die
interessiert sind, und darf nicht das Privileg einer Elite sein.“
Auch im Buch Brasilien. Eine Kulturgeschichte geht es immer wieder um die
politische Literatur in Brasilien. Bereits im 19. Jahrhundert schrieben Autoren
gegen Machtmissbrauch und Korruption an, suchten eine eigene brasilianische
Identität und Nationalität. In den 1920er Jahren versuchte sich die
brasilianische Kunst neu zu erfinden, die Semana da Arte Moderna, die Woche der
Modernen Kunst, 1922 in Sao Paulo, war ein wegweisendes Ereignis. Innen- und Außensicht
Brasiliens waren und sind nicht immer kompatibel, Klischees überlagerten
oftmals die Realität - und das sei auch heute noch so, sagt Ursula Prutsch:
Politische Bücher fänden meist nur schwer ihren Weg in europäische
Bücherregale:
„Es hängt sehr stark davon ab, was
wir wahrnehmen und was wir rezipieren, bzw. was und welche Art von Literatur
überhaupt ins Deutsche übersetzt wird von den Verlagen und propagiert wird. Und
das ist, so habe ich den Eindruck, noch immer sehr stark diese auf Exotismus eingehende
Literatur. Jorge Amado, zum Beispiel, wurde letztes Jahr wieder aufgelegt
anlässlich seines 100. Geburtstages. Und das vermittelt ja nur ein sehr kleines
Bild der brasilianischen Identitäten und Realitäten. Also, Salvador de Bahia,
Exotismus, Mulatinnen. Aber es gibt sehr wohl eine politische Literatur und vor
allem eine Literatur, die sich in den Favelas konstituiert hat, vor allem durch
Paulo Lins Roman Cidade de Deus, das es ja auch auf Deutsch gibt, Die Stadt
Gottes, 1997 geschrieben und Paulo Lins kommt ja aus den Favelas, und vor
allem auch durch die Verfilmung dieses Buches ist dann eine Art von
Favelaliteratur in Gang gesetzt worden, die sogar den politischen Prozess
beeinflusst hat, also, der internationale Blick auf die Favelas war durch die
Literatur früher geschärft, als die brasilianische Politik das dann als Problem
wahrgenommen hat.“
„Falha a fala, fala a bala“ - Wo es keine
Sprache gibt, dort sprechen die Kugeln, ein Zitat aus dem Roman Die Stadt
Gottes von Paulo Lins. Diese Favela-Literatur, die sich mit den Bewohnern und
deren Problemen, wie Gewalt, Drogenhandel oder Prostitution auseinandersetzt,
hat derzeit noch einen Vertreter, der aus der Menge heraussticht. Nicht nur
durch sein Äußeres - dichter Bart, schwarze Brille, Baseballkappe, Goldkette,
Kleidung im Hiphopstyle - sondern vor allem durch seine Ansichten und sein
Engagement. Der Mann heißt Ferréz, lebt seit seiner Geburt in einer Favela der
Mega-Metropole São Paulo. Bei seiner Lesung am vorletzten Tag der Buchmesse in
Frankfurt ist im Auditorium jeder Platz besetzt, sogar in den Gängen drängen
sich die Zuhörer. Ferréz engagiert sich in seinem Viertel, arbeit in einem
Sozialprojekt mit Kindern, investiert dort das, was er mit seinen Büchern
verdient.
„Ich mache das, weil ich es dem
Viertel schuldig bin. Das Viertel hat mir so viel gegeben - obwohl die Menschen
selbst so wenig haben, haben sie mich eingeladen, haben mir ihre Geschichten
erzählt, waren meine Begleiter. Und indem ich das an die nächste Generation
weitergebe, gebe ich ihnen ein bisschen Liebe und Zuneigung zurück.“
Er ist so ganz
anders als die anderen Autoren, die ihre Bücher auf der Buchmesse bewerben. Ob er sich
denn trotzdem als ein Mitglied des brasilianischen Literaturbetriebes fühlt?
„Ja, das tue ich, auch wenn ich am
Rand stehe. Ich bin heute Teil des Know-hows, ich mische mich ein, ich schau
hinter die Kulissen. Und vor allem habe ich sehr viele Leser, das ist das
Wichtigste.“
Die Literatur, die
Ferréz schreibt, wird als literatura marginal bezeichnet, eine Literatur,
die sich mit Problemen der Peripherie beschäftigt. Mit Menschen, die am Rande
der Gesellschaft leben. Mit der so genannten Subkultur. Ferréz sieht sich aber
keineswegs als Vertreter einer Minderheit, ganz im Gegenteil.
„Ich rede tatsächlich mit der
Mehrheit der Brasilianer, wenn ich von der Peripherie rede. Denn die Mehrheit
lebt nicht in den noblen Stadtteilen, die Mehrheit ist eben woanders, in der
Favela und sie wird immer mehr. Mit all denen, die in diesem Land arbeiten,
rede ich. Die Busfahrer, die sich um den Transport kümmern, die
Sicherheitsleute, mit denen rede ich.“
In Ferréz Texten
geht es um Gewalt, Brutalität, Drogen, Sexualität. Er verwendet die Sprache der
Straße, verwendet Slang und Ausdrücke aus Rap und Hip-Hop.
„Ja, das ist sehr, sehr wichtig. Ein
Kind muss früh davon erfahren, denn es wird im Leben unvermeidbar damit
konfrontiert werden. Je früher Kinder damit umgehen lernen, desto besser. Es
muss aufmerksam sein und darf nichts verschlafen.“
Politik und
Literatur seien untrennbar verbunden, ist Ferréz überzeugt. Der Schriftsteller
müsse sich engagieren.
„Ganz klar, das ist meine Aufgabe.
Der Denker muss die schlechte Welt, in der er lebt, besser machen. Ein Denker
muss ein Chronist der schlechten Zeit sein, und versuchen, die Welt zu
verbessern. Sonst bringt das nichts. Ich glaube daran, dass Literatur die Macht
hat, etwas zu verändern, sonst wäre ich nicht hier. Wahrscheinlich wäre ich
tot. Die Literatur hat mich hier her gebracht, die Bücher von Hermann Hesse,
der wohl niemals daran gedacht hat, dass irgendwann ein Typ aus der Favela
diese Bücher lesen würde. Verstehst Du? Das hat mich verändert, schau, wo ich
jetzt bin.“
Es gibt
in Brasilien einige Autoren, die die Themen Favela, Gewalt oder Drogen
aufgreifen. Doch meist ist es eine Sicht von außen. Er, Ferréz, weiß, wovon er
spricht.
„Ich komme von dort. Seit 38 Jahren
lebe ich an der Peripherie. Ich kenne das Chaos, den Drogenhandel, dieser
Wahnsinn. Ich lebe genau dort.“
Sagt Ferréz, wohl
einer der authentischsten zeitgenössischen brasilianischen Autoren.
Die Buchmesse in
Frankfurt ist zu Ende. Ob Brasilien einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat,
ob die vielen Stimmen auch künftig zu hören und zu lesen sein werden, und wie
sich das Land in Zukunft entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Ein junger Autor
verkaufe kaum mehr als 3.000 Bücher, selbst wenn er in einem der renommierten
Verlage publiziert, schreibt Ursula Prutsch in ihrem Buch Brasilien. Eine
Kulturgeschichte. Und nicht nur im Kulturbereich und in der Bildung habe
Brasilien viel nachzuholen, noch immer prägten Korruptionsprozesse den
politischen Alltag, noch immer seien die Greuel der Militärdiktatur zwischen
1964 und 1985 nicht gänzlich aufgearbeitet. Die Gefahr, dass Brasilien nach
Großereignissen wie der Fußballweltmeisterschaft 2014 oder den Olympischen
Spielen 2016 wieder in alte Muster zurückfallen könnte, sieht Ursula Prutsch
aber dennoch nicht:
„Es gibt wirklich positive
Symbole, das ist eben einfach eine stärkere Demokratisierung der Gesellschaft
und ich sage auch dann gerne zu solchen Kritikern, schauen Sie sich die
Situation in Ungarn an oder in Russland, wo sich die Politik wirklich
destabilisiert, wo Oppositionelle nicht mehr ihre Meinung sagen können. Das ist
in Brasilien nicht der Fall, also wir haben doch stabilere Demokratie als vor
zwanzig Jahren, wobei man auch sagen muss, das hängt sehr stark von den
Regionen ab: Südbrasilien kann man durchaus in vielem mit einem
durchschnittlichen EU-Land vergleichen, Nordostbrasilien, die Amazonasregion
gilt oft als eine Art von Indien, man sprich ja auch von „Bel-India“, also
Belgien und Indien sei Brasilien zusammen, also da haben Sie feudale Strukturen
und Clanstrukturen und wenig demokratisches Verständnis. Trotzdem hoffen wir,
dass sich das ändert, weil viele Brasilianer auch sagen, wir haben so oft
Rückschläge gehabt, gerade die Mittelschicht, man können nur nach vorn schauen.
Und deswegen denke ich, oder hoffe ich, dass die brasilianische Politik mit
ihrer sozialen Marktwirtschaft das Land nicht in eine große Krise stürzen wird,
aber das hängt eben nicht nur von Brasilien ab, das ist ja eine sehr global
vernetzte Politik.“
Man könne
die aktuellen Demonstrationen auch in diesem Sinne begreifen, dass die Welt
endlich aufhören möge, Brasilien nur mit Zuckerhut, Copacabana und Fußball zu
assoziieren, schreibt Ursula Prutsch im letzten Kapitel ihres Buches. Die
Proteste würden zeigen, dass die Demokratie zu demokratisieren sei. Und sie
fasst zusammen: Brasilien sei international nicht mehr zu überhören, weder
ökonomisch und politisch, noch kulturell.
Ursula Prutsch / Enrique Rodrigues-Moura: Brasilien. Eine Kulturgeschichte (transcript)
Luiz
Ruffato: Mama, es geht mir gut (Assoziation
A)
João
Paulo Cuenca: Mastroianni. Ein Tag (A1-Verlag)
Andréa
Del Fuego: Geschwister des Wassers
(Hanser)
Paulo
Lins: Seit der Samba Samba ist
(Droemer)
Beatriz
Bracher: Antonio (Assoziation A)
Adriana
Lisboa: Der Sommer der Schmetterlinge
(Aufbau Verlag)
Ferréz:
Erzählung in der Anthologie Popcorn
unterm Zuckerhut (Wagenbach)