Brasilien. Gastland der Frankfurter Buchmesse.

Mittagsjournal, 11.10.2013 (für radiofuzzi verlängerte Version)
 
Brasilien, vom österreichischen Autor Stefan Zweig einst als Land der Zukunft tituliert, ist in der Gegenwart angelangt. Politische Reformen haben in den vergangenen zwanzig Jahren für zahlreiche Verbesserungen im sozialen und gesellschaftlichen Bereich gesorgt, Brasilien steht mit der Fußball WM im kommenden Jahr und den Olympischen Spielen 2016 vor zwei Großveranstaltungen. Auf der anderen Seite gehen die Menschen auf die Straßen, demonstrieren für bessere Bedingungen im öffentlichen Verkehr, für höhere Löhne und vieles mehr. Brasilien ist immer noch ein Land im Aufbruch, im Umbruch. All diese Aspekte und Zwischentöne sind derzeit auch auf der Buchmesse in Frankfurt zu hören, bei der Brasilien ja heuer Gastland ist.

Samba, Fußball und Zuckerhut, dazu Caipirinha am Strand und schöne Frauen – das kommt vielen Europäern in den Sinn, wenn sie an Brasilien denken. Doch Brasilien will sich auf der Buchmesse abseites der gängigen Klischees präsentieren, das Land hat so viel mehr zu bieten. Auch in der Literatur, sagt Ana Maria Machado. Sie hat mehr als 100 Bücher veröffentlicht, wurde im Jahr 2000 mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis ausgezeichnet, seit heuer ist sie Präsidentin der Academia brasileira de Letras, der brasilianischen Akademie für Dichtung: "Was uns im Moment am besten charakterisiert, ist dieses Wechselspiel einer Vielzahl an Stimmen, so verschieden in Qualität, Thema und Ausdrucksweise. Wir wissen nicht, wer bleiben wird und wer nicht, aber diese Lust am Schreiben, die derzeit so viele haben, das ist es, was uns derzeit am besten charakterisiert."

Und doch ist es genau diese Vielfalt, die es andererseits so schwer macht, brasilianische Literatur außerhalb des Landes bekannt zu machen, sagt der Autor João Paulo Cuenca, ein Vertreter der jungen Autorengeneration, den das renommierte britische Literaturmagazin Granta vor Kurzem als einen der 20 wichtigsten jungen Schriftsteller Brasiliens bezeichnet hat und der gestern hier gemeinsam mit seinem Übersetzer aus seinem Roman „Mastroianni. Ein Tag“ gelesen hat, ein ironischer Roman, der Schlagwörter wie Gentrifizierung und Hipstertum vorweggenommen hat: "Die brasilianische Kunst, die brasilianische Kultur, öffnet sich dem Neuen, saugt die Andersartigkeiten aus Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika auf und entwickelt dadurch kompromisslos  etwas ganz Neues. Etwas, das sich dem Programmatischen entzieht, dem Akademischen, das sich nicht leicht einordnen lässt. Diese Fülle, die produziert wird, macht es aber eben auch so schwer, das Ganze zu verkaufen."

70 brasilianische Autoren repräsentieren hier auf der Buchmesse ihr Land, täglich wird gelesen, zugehört und diskutiert, nicht zuletzt wegen der Eröffnungsrede des Schriftstellers Luiz Ruffato, der dieser Buchmesse eine zusätzliche politische Dimension gegeben hat. Denn Ruffato sprach auch von sozialer Ungerechtigkeit, von Intoleranz, Genozid und Machtmissbrauch: "Ich glaube, wenn wir von Büchern sprechen oder von Literatur, dann muss es dort den Raum geben, über das Leben oder die Gesellschaft nachzudenken und hier ist der richtige Platz dafür. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir ständig davon reden, dass wir Party machen, das machen wir sowieso jeden Tag, aber hier ist ein adäquates Forum, um Ideen zu diskutieren. Wenn eine Buchmesse nicht der richtige Platz dafür ist, über Ideen zu debattieren, dann weiß ich auch nicht, wo der sein soll."
Neben Ruffatos neuem, ins Deutsche übersetzten Roman mit dem Titel „Mama, es geht mir gut“ - wieder ein überaus spannender fragmentarischer, postmoderner Roman - stehen Dutzende brasilianische Bücher in den Regalen der Verlage und in der Sonderausstellung aller Neuerscheinungen aus und über Brasilien. Neuauflagen und Übersetzungen alter Meister wie Machado de Assis oder Euclides da Cunha sind dort genauso zu finden wie moderne urbane Romane, dazu kommen Erzählbände, Lyrik, Kinderbücher und auch einige Sachbücher, die sich mit Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft auseinandersetzen. Der Übersetzer Michael Kegler hat sie zusammengetragen, 260 Bücher sind es insgesamt, davon allein 117 belletristische Titel: "Wir haben von Geschichten, die die soziale Realität Brasiliens beleuchten bis hin zu Geschichten, in denen das Wort Brasilien überhaupt nicht vorkommt, alles. Das ist das Schöne, dieses Land der vielen Stimmen, das ist wirklich ein klug gewähltes Motto, das ist kein Bla-Bla. Es gibt wirklich sehr unterschiedliche Stimmen, die alle für sich großartig sind."


Dennoch wird immer wieder nach Gemeinsamkeiten gesucht, was ist denn nun tatsächlich brasilianisch an brasilianischer Literatur? Die Frage nach Identität und Nationalität beschäftigt dieses riesige Land seit über 500 Jahren, sagt Adriana Lisboa, die mit ihrem Buch „Der Sommer der Schmetterlinge“, einem poetischen Roman der großen Gefühle, auf der Buchmesse vertreten ist. Auch sie ist eine der jüngeren Autorinnen, der generação 00, also jener Autoren, die ihre ersten Erfolge im neuen Jahrtausend feierten. Sie verweist in Sachen Brasilianität auf die wechselvolle und vor allem noch sehr kurze Geschichte des Landes: "Ich glaube, wir sind ein Volk, eine Nation voller Einflüsse, voller Erblasten. Der Indigenen, der afrikanischen Sklaven, des europäischen Kolonialherren, der asiatischen Einwanderer. Unser Volk hat sich aufgrund dieser kulturellen und ethnischen Hinterlassenschaft gebildet. Und ich glaube, unsere Kunst im Allgemeinen und unsere Literatur im Speziellen ist ähnlich bunt. Es gibt nicht die eine Eigenschaft, die die zeitgenössische brasilianische Literatur einzig charakterisiert."

Es gibt, und das zeigen die heurige Frankfurter Buchmesse und ihre brasilianischen Protagonisten mehr als deutlich, viele neue Aspekte dieses Landes zu entdecken. Andréa del Fuego, Autorin des Buches „Geschwister des Wassers“, einer magischen und dennoch ungemein aktuellen Geschichte, formuliert es so: "Wer neugierig ist und Lust hat, sich auf die Bücher einzulassen, der wird viel finden und sicherlich positiv überrascht werden."

Es lohnt sich also, sich mit Literatur aus Brasilien zu beschäftigen. Und zwar nicht nur jetzt, sondern sicherlich auch in den nächsten Jahren.

Andréa Del Fuego Geschwister des Wassers(erschienen bei Hanser)
Adriana Lisboa Der Sommer der Schmetterlinge(Aufbau Verlag)

João Paulo Cuenca Mastroianni. Ein Tag (erschienen im A1-Verlag)
Luiz Ruffato Mama, es geht mir gut (erschienen bei Assoziation A)